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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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wollte nur rauskriegen, was du im Wald suchst. Menschenfleisch ist absolut unappetitlich. Als du dann die Frage gestellt hast, habe ich rot gesehen. Meine Natur ist es, zu jagen und nicht zu töten, verstehst du?«
    »Wolfsnatur, Hexennatur, was ist das für eine verrückte Nacht!«
    »Die neunte Nacht nach der Sommersonnenwende«, sagt der Wolf leise.
    Hüte dich vor der neunten Nacht. Ich schwanke. Frau Wurds letzte Worte im Hexenhaus. Eine Prophezeiung? Das Opfer. Welches ist das Opfer? Ich muss es jetzt wissen. Ich hole tief Luft und stelle die Frage zum dritten Mal: »Warum hast du nur ein Auge?«
    Er heult laut auf und senkt den Kopf.
    »Meine Sehnsucht war, alles zu wissen, alle Antworten auf alle Fragen zu kennen. Ewige Weisheit, Lösung aller Rätsel, das war mein Herzenswunsch. Ich fand den Weg, überwand meine Ängste und begehrte den Trank. Dafür bezahlte ich den Preis. Mein rechtes Auge hat der Dichterkopf verlangt. Doch weshalb, das weiß ich nicht, daher ist das die einzige Frage, die ich nicht beantworten kann.«
    Die Erkenntnis kommt in Schüben, wird zum Schock. Ich erinnere mich an die Dinge in den Einmachgläsern in Mimmers Untergeschoss. Augäpfel. Opfer. O Gott!
    »Deine Entscheidung, Olivia«, ruft Mimmer, während der Schwan immer noch erwartungsvoll vor mir steht und der
Wolf so böse knurrt, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterläuft.
    »Gagnrad«, sage ich zu ihm, so sanft ich kann, »du hast deine Geschichte, ich habe meine. Das hier ist das, was ich will und freiwillig wähle. Es ist der Schlüssel zu meiner Berufung. Du hast meine Frage nicht beantwortet, als ich sie stellte, hast geschwiegen, als du reden solltest, nun sei still!«
    »Wie du willst. Wir sehen uns ohne Zweifel wieder. Dann hüte dich vor dem Wolf, der seiner Bestimmung folgt!«
    Er wendet sich ab, die Zähne entblößt, und legt sich auf den Mosaikboden, mit dem er langsam verschmilzt.
    »Warte!«
    Hin- und hergerissen zwischen dem duftenden Getränk und dem verschwindenden Wolf horche ich tief in mich hinein. Alles, was ich mir je erträumt habe, ist in Reichweite, ich muss mich nur entscheiden. Der Dichtermet wird mir meine kühnsten Wünsche erfüllen, durch diesen Trank werde ich die Schreibkunst auf den Gipfel treiben. Das ist mehr als ein Pakt mit Shakespeare, mehr als ein Ring an meinem Finger, das ist Vollendung, Wahrheit, Bestimmung. Das ist alles, wonach ich gesucht habe! Oder? Ich stehe auf und sehe dem Wolf nach, erinnere mich an das Gefühl, die Welt mit seinen Sinnen zu erleben. Verdammt, ich sehne mich so sehr nach einem Schluck aus diesem Becher. Ich kann das Aroma riechen, schmecke förmlich den Honig auf der Zunge, den dunklen, süßen Waldhonig. Aber was ist das Opfer? Was muss ich dafür geben? Ist der Met es wert?
    Das wirst du nie erfahren, wenn du es nicht ausprobierst!
    Motzmarie! Du bist wieder da!
    Trink!

    Aber ich …
    Trink!
    Mit einem tiefen Schluck leere ich den Becher. Das Getränk schmeckt herrlich. Kellerkalt kommt die Süße ganz besonders zum Ausdruck, schwer wie Sirup rinnt es mir durch die Kehle, wohlige Wärme breitet sich in meinem Magen aus und erfüllt meinen ganzen Körper. Seligkeit erfasst mich, ein nie gekannter Enthusiasmus, ein rauschhaftes, überirdisches Glück und zugleich - ich wanke - ein unfassbares Verlustgefühl! Was ist das? Was geschieht mit mir?
    Keine Sekunde später greifen die Käuze an. Der Angriff ist so gewaltig und zugleich so organisiert, dass ich keine Chance habe, mich zu wehren. Hundertfach flattern Flügel um mich herum, laute Eulenschreie begleiten die Attacke, und als der erste scharfe Schnabel nach mir hackt, bin ich starr vor Entsetzen. Dazu kommt das schaurige Geräusch wehklagenden Wolfsgeheuls und Mimmers hysterisches Gekicher.
    Unter den Schnabelstößen der Käuze breche ich zusammen, der Becher entgleitet meinen Händen, und ich hebe schützend die Arme über den Kopf. Diese Maßnahme nützt jedoch rein gar nichts. Es sind einfach zu viele. Kaum kann ich einen von meinem Genick vertreiben, krallen sich zwei andere in meine Haare, mindestens zehn picken schmerzhaft auf meine Hände ein, bis ich sie schreiend unter meine Achseln schiebe, was natürlich das Ende ist. Denn nun geht die Meute direkt auf ihr jetzt ungeschütztes Ziel zu.
    MEIN AUGE!
    Die Situation erscheint mir schrecklich unwirklich. Als wäre ich gar nicht mehr in meinem Körper, sondern befände mich tiefer in mir drinnen, etwa da, wo Motzmarie normalerweise
haust. Man

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