Jagdzeit
einen silbernen Schimmer, und zum Vorschein kommt ein unwiderstehlich glänzendes Gefäß am Grund des Beckens. Ich seufze begeistert auf.
»Wie wunderschön!«
Ich strecke die Hand aus, um die Wasseroberfläche zu berühren. Es nur einmal anfassen, das kühle Gewicht des Silbers in der Hand spüren, nur für einen Moment, nur …
Das verschwommene Wolfsbildnis knurrt ärgerlich, doch nur noch aus der Entfernung wie eine schwache Mahnung.
»Lass den Dingen ihr Geheimnis«, flüstert Gagnrad noch, ehe er in den Wellen des Brunnenwassers verschwindet, »die nackte Wahrheit kann kein Menschenherz ertragen.«
Ich handle schnell. Der Zauber scheint durchbrochen, ich
kann mich bewegen. Das Wasser ist kalt, aber nicht zu kalt. Ein Griff genügt, um den Silberbecher zu fassen. Hingerissen sehe ich ihn mir aus der Nähe an, drehe ihn zwischen den Fingern, streichle liebevoll über die hübschen Verzierungen und lächle glücklich dabei. Etwas so Schönes habe ich noch nie gesehen.
Mimmer pfeift fröhlich vor sich hin.
» Noch blickt mein eines Auge nach dir hin, das andre wandte sich, so wie mein Sinn. Das ist von Shakespeare, guter Dichter, sehr kluger Kopf!«
Ich drehe den Becher in meiner Hand.
»Ja, junge Frau, mein Brunnen birgt einen wertvollen Schatz. Manch einer konnte ihn aus dem Wasser fischen. Das Glück ist mit jenen, die es nicht für den Zweck des Suchens halten, etwas zu finden. Nun aber nicht mehr gezögert! Nutzlos ist ein leeres Trinkgefäß, es wird Zeit, es nach deinem Wunsch zu füllen! Triff deine Entscheidung! Bist du bereit, das Opfer zu bringen?«
»Verlangen Sie, was Sie wollen«, antworte ich, ganz in das Muster des Silberbechers vertieft. Mein Mund ist trocken, ich habe das Gefühl, dass ich völlig ausgedörrt bin. Alles, jede Faser meines Körpers, sehnt sich nach diesem einen Schluck Met. Dichtermet. Inspiration. Ich denke an die letzten Wochen, an die schreckliche Leere des Computerbildschirms, an die Leere in mir, an den gebrochenen Pakt, an die Deadline und den zu erwartenden bösen Absturz, wenn der Traum wie die sprichwörtliche Seifenblase zerplatzt. Wenn mein erster Roman eine Eintagsfliege bleibt, während ich bis in alle Ewigkeit als Kellnerin bei Starbucks Milch aufschäume, die andere, erfolgreiche, strahlende Glücksmenschen mit Plastiklöffeln in zufrieden lächelnde Münder schaufeln.
Aber hier, in Reichweite, liegt die Lösung all meiner Probleme verborgen, hier reift das Getränk, das meine Sorgen, eins, zwei, drei, in Luft auflösen kann. Hier, nur eine Bitte und ein Opfer entfernt. Ich drehe mich zu Mimmer um.
»Herr Mimmer, ich möchte einen Schluck Dichtermet. Ich bin bereit, zu bezahlen, was Sie verlangen.«
Mimmer nickt zufrieden und lacht. Das Wasser, das dabei aus seinem Mund kommt, gluckert unanständig.
»Gute Entscheidung.«
Die Schwäne haben damit aufgehört herumzuschwimmen und sich stattdessen am vordersten Rand des Beckens versammelt, in Reichweite, mir zugewendet.
»Olivia!«, sagt der rechte Schwan mit Frau Wurds Stimme, »große Dinge sind dir bestimmt. Doch zuerst musst du deine Natur erkennen.«
»Berühre mich!«, ergänzt der zweite Schwan mit der gleichen Stimme.
Ich möchte etwas erwidern, doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Abscheu ist alles, was ich empfinde. Die Schwäne mögen schön anzusehen sein, doch es sind immer noch Vögel. Weiß glänzendes Gefieder bleibt Gefieder, oder?
»Nur deine Natur offenbart das richtige Fass.«
Ich schüttle stumm den Kopf.
»Olivia!« Der Schwan richtet sich bedrohlich auf, seine Augen, zuvor in warmer Bernsteinfarbe, leuchten nun dunkelrot. »Streck deine Hand aus! Gib etwas von dir, dann bekommst du auch etwas zurück. Deine Hand! Jetzt!«
Wie schon im Hexenhaus kann ich mich gegen den Befehl nicht wehren. Verzweifelt muss ich zusehen, wie mein Arm sich hebt. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit, denn was tatsächlich
passiert, bringt mich fast um den Verstand. Aus den feinen Linien der Rune in meiner Hand wachsen - bitte nicht, bitte lass mich aufwachen, bitte lass es nicht geschehen! - Federn. Es werden mehr und mehr, schon kommen sie aus dem Handrücken. Größere, pechschwarze Federn sprießen aus meinen Fingernägeln, und ich weiß, dass die Übelkeit diesmal die Oberhand behält. Langsam nähert sich mein (Flügel!) Arm dem Schwan, während ein schwerer Klumpen meine Speiseröhre hinaufwandert. Die Käuze auf den Fässern schreien wild und gierig, und durch alles hindurch höre ich
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