Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
Vom Netzwerk:
Frau Wurds Stimme, als käme sie aus Tausenden Kehlen, inklusive meiner eigenen, in einem merkwürdigen Singsang:
    Die Esche wurzelt in Urds Brunnen.
    Dort in der Tiefe haftet weder Sonne noch Mond.
    Es schwanken und stürzen die Ströme der Luft.
    In Mimmers klarer Quelle findet Wahrheit:
    Wer tief im Herzen sucht, gemäß der eigenen Natur.
    Wisst ihr, was das bedeutet?
    Da wird mir auf einmal alles klar. Der Wolf! Der Wolf ist gar kein Wolf, er … und ich bin … ich schreie! Meine Hand berührt den Schwan, Federn treffen auf (Federn!) Haut, schwarz auf weiß. Ich kann mich nicht mehr halten, ich will wie am Spieß brüllen, doch etwas verhindert das: das Etwas, das mich würgen lässt. Ich ersticke! Ich bekomme keine Luft! Um Gottes willen, ich werde sterben! Ich würge, so fest ich kann, schüttle meinen Kopf, bis ich das Blut in meinen Ohren rauschen höre, drücke mit aller Kraft mit der Hand gegen meinen Kehlkopf und dann, plötzlich, ist es vorbei. Das Etwas löst sich, und ich
spucke es erleichtert aus. Es landet im Springbrunnen, und erst als ich erkenne, was es ist, stolpere ich entsetzt rückwärts und kann einen Sturz gerade noch verhindern.
    Im Brunnen zischt und raucht ein ebensolcher Klumpen, wie ihn Sibby, der Waldkauz, und Frau Wurd hervorgewürgt haben. Mir fällt sogar aus irgendeiner vergrabenen Erinnerung der Fachbegriff dafür ein: Gewölle! Mein höchstpersönliches Gewölle hat sich beinahe aufgelöst. Weißer Nebel erfüllt den Keller, und ich klammere mich an den Silberbecher in meiner Hand, die zum Glück wieder federlos ist und menschlich aussieht, während ich beobachte, was nun geschieht. Der Nebel lässt bisher verborgene Zeichen auf den Weinfässern hell aufleuchten. Ich erkenne sie. Es sind Runen.
    Mit kräftigen Flügelschlägen schwingt sich der größere der beiden Schwäne in die Luft, dreht eine Runde durch das Gewölbe, begleitet von den Schreien Hunderter Käuze. Geblendet von dessen Schönheit und noch immer wackelig von den unfassbaren Ereignissen, verfolge ich den Flug durch den sich allmählich auflösenden Nebel.
    »Heb deine Hand!«, ruft Mimmer mir zu. Ich halte den Silberbecher mit der Linken und strecke die rechte Hand hoch. Die Linien der Rune in meiner Handfläche glühen weiß. Ich betrachte die Fässerstapel, da sehe ich es! Ein Fass ganz oben, beinahe unter der Decke, trägt dasselbe Zeichen, ein F mit nach unten gerichteten Querbalken. Die Ansuz-Rune. Ich hebe meine Hand, sodass die Zeichen zueinander gerichtet sind, und spüre, wie die Kraft zwischen ihnen fließt.
    Der Schwan fliegt einen weiteren Kreis, gerät in die Strömung zwischen den Runen und landet schließlich elegant auf dem richtigen Fass. Er biegt den langen, schlanken Hals und
hält den Schnabel unter den Hahn des Fasses. Fasziniert sehe ich zu, wie eine kleine Menge Flüssigkeit im Schwanenschnabel verschwindet, woraufhin das Tier ebenso elegant wie zuvor in einem weiten Bogen wieder herunterfliegt, um direkt vor mir zu landen.
    »Nun knien Sie nieder, junge Frau!«
    Ich sehe Mimmer an, und er nickt mir aufmunternd zu. Es ist so weit! Vor Aufregung verspüre ich einen Harndrang, wie immer. Der Trank!
    »Olivia, nicht!«
    Ein vager Duft von Kaminfeuerrauch und Birkenblüte im Regen erfüllt den Keller. Meine Nase nimmt ihn wahr, noch ehe er mit einem gewaltigen Satz aus dem Bodenmosaik springt, auf dem sich die Waldtiere nun verängstigt zusammendrängen. Der Wolf steht neben mir, am ganzen Körper zitternd. War das Wolfsfell immer schon silbern, oder fällt mir das erst jetzt auf? Bei Nacht könnte man es grau nennen, doch in Wahrheit glänzt es wie silberner Nebel im strahlenden Licht des unterirdischen Tages.
    »Was willst du hier, Gagnrad?«
    Ich knie nieder. Der Schwan hält sanft den Schnabel in meinen Becher, und das ersehnte Getränk füllt diesen etwa einen Fingerbreit. Ein kostbarer Schluck, zweifelsfrei. Hexenhonigwein.
    »Hör mir zu!«, sagt der Wolf hastig. »Ich muss dich töten, wenn du das Opfer bringst. Das sagten mir die Runen voraus. Ich werde, hieß es, bei Vollmond der roten Spur folgen, durch Eis, Feuer, Wasser und Dunkelheit und muss am Ende denjenigen töten, der meine Wunde teilt. Begreifst du jetzt? Es ist Bestimmung. Du allein kannst es verhindern. Trink nicht!«

    »Was für einen Unterschied macht das? Du wolltest mich immer töten und willst es jetzt auch.«
    Er stöhnt, ein absonderliches Geräusch aus einer Wolfsschnauze.
    »Ich wollte dich nicht töten! Ich

Weitere Kostenlose Bücher