Jage zwei Tiger
worden. Zwischendurch tanzte mal jemand zu Madonna. Ein Mann wurde ohnmächtig und fiel beinahe in die angebissene Fototorte, halb so schlimm, und Cecile hörte plötzlich eine schneidende Frauenstimme mehrmals hintereinander nach Lumpi rufen, bis sie eine rothaarige Mittfünfzigerin im weißen Nachthemd zuerst die Balustrade entlang und dann die gewundene Treppe hinunter zur Partygesellschaft wanken sah. Cecile kannte diese Frau nicht, kombinierte jedoch, dass es sich um Cordula mit der Pudelmütze handeln musste, und behielt damit recht. Cordula wirkte wie aus einem psychiatrischen Keller ausgebrochen. Geld allein jedenfalls macht nicht unglücklich, irgendwas anderes musste ihren schlechten Zustand zu verantworten haben. Vermögen und zu gutes Aussehen – teuflische Kombination. Sie rief weiterhin nach Lumpi, nach und nach drehten sich die Gäste zu ihr um. Einem ehemaligen Tischtennisweltmeister, der inzwischen mit surrealen Nassnadelradierungen verschiedener Sportgeräte sehr viel Geld verdient, fiel die geschenkverpackte Erstausgabe von Harper Lees Roman Wer die Nachtigall stört aus der Hand. Als Cordula am Treppenabsatz ankam und sich dort in eine der jungen Judy Garland entliehene Pose begab, verstummte der komplette Raum. Nicht, weil sie betrunken und gerade erst aufgestanden zu sein schien, sondern weil sich in ihrer Präsenz das grenzenlose Desinteresse an der ganzen Gesellschaft hier widerspiegelte. Sie sah niemanden an, sondern nur auf die Tür, durch die innerhalb weniger Sekunden ihr Hund mit einem riesigen verdreckten Gummistinktier im Maul hereintrottete. Er lief in ihre Richtung, blieb jedoch schreckerstarrt stehen, als sein Blick auf das Wildschwein am Holzkohlespieß und dessen professionell eingeritzte, inzwischen zerfledderte Haut fiel. Gesträubtes Fell, weit aufgerissene Augen und sofortige Umkehr, Lumpi rannte mit eingezogenem Schwanz wieder raus. Die Partygesellschaft lachte erleichtert, das war ja auch irre witzig und alles, und die Leute sagten Dinge wie »Haha, so was hat der Hund noch nie gesehen!« oder »Eventuell hätte man ihn vorher desensibilisieren müssen für den Anblick einer Spansau« oder »Der Arme, da hat der doch tatsächlich Angst vorm Schwein!«, woraufhin Cecile aus ihrer abgeschiedenen Sesselsituation nur die gewagte These zu erwidern wusste, sehr laut: »Der Hund hatte keine Angst vor dem Wildschwein, der hatte Angst, dass er gleich auch gefressen wird von euch Wichsern!«
Cordula, die bisher keinen der Gäste eines konkreten Blickes gewürdigt hatte, begann Cecile anzustarren. Die Intensität ihres Staunens ging auf die anderen über, ohne dass die ihr Interesse an dem unattraktiven Girl und deren Äußerung hätten nachvollziehen können. Und Cecile rutschte bedenklich tief in die Lederpolster, Cordula starrte weiter, und Gloria kaute am anderen Ende des Raumes an einer entzündeten Nagelhaut, und niemand wusste so genau, was los war. Außer, dass da gerade eine vereinte Kraft geteilten Geistes losbrach, die einem Film von Scorsese hätte entrissen sein können.
»Diese abgeschmackte Behauptung, das da vorne sei deine Tochter –«, schrie Cordula dann unvermittelt Gloria zu und zeigte auf Cecile, die sich, quasi zur Salzsäule erstarrt, oder wie nennt man das, am Ohr kratzte – »wo zur Hölle bist du gelandet, Gloria? Brauchen wir hier wieder mal ein paar Volkshochschulauffrischungen? Don Giovanni in der Kirche? Irgendwas absolut Andersartiges und Fremdes, das du als abstoßend empfinden kannst, um langsam zu checken, dass das da alles Quatsch ist?«
Gloria neutralisierte die Situation mit einem souveränen Lächeln, sodass alle Anwesenden Cordulas Bezugnahme für eine narkotikabedingte Ausfallerscheinung und reinen Zufall halten konnten. Die Gäste atmeten mal wieder erleichtert auf, blieben aber gespannt. Cecile wurde unruhig. Cordula fing an, sich rückwärts die Treppe nach oben zu kämpfen, und fuhr fort, dass es ihr egal sei, was die ganzen Idioten machten, was Deutschland mache, von oben sei es doch wirklich rasiert und jede Scheißhecke sei der absolute Ausdruck von Hass. »Ihr baut eure Äcker aus Hass, eure Häuser, eure Gärten! Ihr wollt irgendwas beweisen, das ist meins und das geht gar nicht und kotz. Gloria, wirf nur einen einzigen Blick auf die schützenden Brustpanzer deiner angeblichen ›Tochter‹, auf die den Tod dir sendende Göttlichkeit dieser Lüge! Guck dir das Autoaggressionspotenzial an, die Haarfarbe, den Abgrund in ihrem
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