Jage zwei Tiger
Sichtweite waren.
Cecile zitterte so sehr, dass sie es nicht hinkriegte, ein Zugticket am Automaten zu lösen. Sie stieg ohne Ticket in irgendeinen Wagen, den sie für richtig hielt. Ihr Kopf tat weh, sie hatte Magenschmerzen und Schwindelanfälle. Unabhängig davon hatte sie ernsthafte Panik, und sie wusste nicht wovor. Thomas, der Galerist, und seine Frau saßen mit dem Rücken zu ihr auf zwei Plätzen in ihrer Nähe, er tippte angestrengt was in sein Handy, und sie telefonierte mit jemandem, dem sie die Fahrt mit dem Regionalexpress als »wahnsinnig lohnenswerte Erfahrung« beschrieb. Cecile lief auf die beiden zu und an ihnen vorbei mit dem gut getimten Statement, dass sich für die Besitzer des größten Gemäldes von Jackson Pollock ein goldener Jaguar gehöre und kein 13-Euro-50-Ticket bis nach Hochkamp. Es war als mehrschichtige Beleidigung gemeint und wurde auch als solche aufgefasst.
Sie setzte sich am Ende des Waggons zu einer iranischen Großfamilie, die geschlossen Spaghetti Bolognese aus Tupperdosen aß, und entschied sich, in Altona auszusteigen.
Als sie in der Bahnhofshalle angekommen war und ihre Mutter anrufen wollte, stellte Cecile fest, dass sie ihr Handy im Flugzeug vergessen hatte. Sie ging in einen Telekomshop und holte sich dort für dreißig Euro ein Prepaidtelefon mit Simkarte. Sie konnte keinen Satz zu Ende sprechen wegen Atemnot oder Ohnmachtsgefühlen. Als sie das Scheißteil dann ausgehändigt bekam von dem sie völlig abgestoßen anglotzenden Verkäufer im »Zum Glück bist du da und nicht hier«- T -Shirt, fiel ihr auf, dass sie die Nummer ihrer Mutter nicht auswendig kannte. Sie latschte von einer Spielbank zu mehreren Kneipen und bis ins Ibishotel, in dem sie nach langen Diskussionen mit dem Rezeptionisten ins Internet und in ihrem Mailarchiv nach der Nummer suchen konnte, inmitten einer Riege Alkoholikerlobbystammgäste, die sich lautstark über Ceciles Louis-Vuitton-Reisetasche beschwerten. Sie konnten nicht wissen, dass die Tasche ein als Verarsche gemeinter Fake war, der das Markenlogo durch eine identisch wirkende Anordnung verschiedener Geld scheißender Elefanten ersetzte. Dass man das von weitem nicht sah, war der Clou an der Sache, und Cecile lenkte sich mit der Analyse einiger ausrasierter Augenbrauen von der Empfindung tiefer Scham ab.
Sie stieg in ein Taxi. Sie rief ihre Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie nach Hause kommen wolle. Sie fragte, ob das okay sei, und natürlich war das okay, sehr okay sogar, doch sie solle dem Taxifahrer ihr Handy geben, damit Gloria ihm erklären könne, wie er fahren muss, das »neue Haus« sei nämlich sehr schwer zu finden und habe keine wirkliche Adresse. Der Taxifahrer fuhr an der falschen Seite der Elbe entlang in die entgegengesetzte Richtung und ließ eine Hasstirade auf Cecile los, weil diese nicht die Schuld dafür auf sich nehmen wollte, dass die beiden eine dreiviertel Stunde lang auf eine Fähre warten und für selbige auch noch zehn Euro bezahlen mussten, von denen man sich zudem locker hätte zwei Schachteln Kippen kaufen können, eine für ihn und eine für sie. Schließlich teilten sich die beiden bei geöffnetem Schiebedach eine Mentholzigarette, und der Fahrer erzählte von der neuen Wasserschildkröte seines Sohnes. Die war inzwischen ein halbes Jahr alt und biss einen immer aus Versehen in den Finger, wenn man ihr was zu essen in den Mund schieben wollte. Das letzte Mal hatte er sich so erschrocken, dass er versehentlich die Hand in die Luft gerissen hatte, an der aber immer noch die Schildkröte hing, und die wurde dann meterweit durchs Wohnzimmer geschleudert. Glücklicherweise hatte sie überlebt. Cecile seufzte erleichtert. Abgesehen von der Schildkröte besaß die Familie einen unter Hüftgelenksdysplasie leidenden Chihuahuamischling, der bald eingeschläfert werden sollte. Dem Taxifahrer stiegen Tränen in die Augen, Cecile auch. Die beiden mussten lachten, heulten dann aber unabhängig voneinander weiter, den kompletten Rest der Fahrt.
Nach drei Stunden kamen sie an. Vor einem überdimensionalen Eisentor, verschnörkelt wie in Märchenfilmen, das die Autobahn von einem Waldgrundstück trennte. Das Taxi hielt und Gloria öffnete mit einer Fernbedienung das Tor, aus ihrem dahinter geparkten Audi heraus. Sie stieg aus, drückte dem Fahrer, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, zweihundert Euro in die Hand und half Cecile dabei, ihre Taschen in den Kofferraum des Audis zu verfrachten. Gloria lächelte nicht.
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