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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Antlitz. Kannst du mich oder sie dann immer noch für verrückt oder für Scheißaussteigerinnen halten? Das sind wir nicht, du bist es. Sich in einer Revolution verbunden zu fühlen, das könnte uns eventuell alle in unserer Feigheit vereinen. Aber irgendwas muss brennen. Und da frage ich euch alle, was ihr brennen sehen wollt. Ich selber befinde mich da eigentlich in der Dunkelkammer, und dann kommen Strahlungen – und ich bin kein Esoteriker –, die dann meine Person verändern … verunstalten … und noch dazu: Ich liebe es. Ich liebe es, verdammt!«
    Auf der vorletzten Stufe legte sich Cordula kolossal auf die Fresse und machte keine Anstalten, wieder aufzustehen. Die Leute waren zu gehemmt oder uncouragiert, jedenfalls widmete sich ihr fünf Minuten lang niemand, bis ihr Mann in seinem Scheißpoloshirt von draußen reingerannt kam und ihr mit gleichzeitiger an die Gäste gerichteter Entschuldigungsgeste aufhalf. Er schaffte sie weg.
    Und die Party ging weiter, besser als zuvor, weil jetzt der Auslöser eines intensiven Erlebnisses (Cordula) zum Objekt wilder Diskussionen gemacht werden konnte. Gloria war irgendwie weg, Cecile wollte ihr hinterherrennen, stattdessen dachte sie »Hammer« und versuchte Voraussetzungen zum Verständnis dessen zu schaffen, was gerade passiert war. Ein Galerist stellte sich neben sie, den sie zwanzig Minuten zuvor einen an ihre Mutter gerichteten, eindeutig sexuell konnotierten Aussagesatz hatte sagen hören. Er unterhielt sich mit ihr über Sternzeichen und die Vergangenheit seiner jüdischen Familie. Er sei aus geschäftlichen Gründen hier, erläuterte diese aber nicht näher. Cecile erzählte unter anderem, dass ihr Vater vor lauter Alkoholismus seinen Job in einer Schweißerei verloren und ihre Mutter sich umgebracht habe, dass sie deshalb mit vierzehn von zu Hause abgehauen und an einen berühmten Künstler aus Los Angeles geraten sei, der sie geschwängert und ihr damit die Möglichkeit gegeben hätte, Fotos der Abtreibung in einer angesehenen Galerie in Südamerika auszustellen, unter seinem Namen und sehr erfolgreich, aber alles kotze sie an und sie wolle gerne zurück auf die Straße und da halt LSD nehmen oder so. Sie sei eingeladen worden, weil man sie mit dem Neuentwurf des Familienwappens beauftragt habe. Der Typ glaubte ihr und zeigte sich enorm beeindruckt. Dann lud er sie auf eine Line Kokain ein. »Columbia in Switzerland« nannte er das. Es war inzwischen stockfinster draußen. Auf dem Rückweg vom Gästeklo kamen sie an der offen stehenden Tür zu einem großen, dunklen Zimmer vorbei, in dem Frederick im Schneidersitz vor seinem Plasmabildschirm hockte. Er hatte den Ton des Fernsehers abgedreht und inzwischen eine Eskimomütze auf dem Kopf. Gebannt sah er sich die Bilder einer Bauernhofdokumentation im Kinderkanal an. Als er Cecile bemerkte, lächelte er und machte sie todernst auf die bemerkenswerten Grüntöne der Wiesenlandschaften aufmerksam. Dann sagte er: »Ich habe schon seit meiner frühsten Kindheit geahnt, dass du mir ein bisschen zu ähnlich siehst.«
    Cecile drehte sich um und stürzte sich in die Arme des Galeristen.
    Es geht an dieser Stelle nicht um eine möglichst authentische Schilderung dieser großen, krassen, gelangweilten Welt der Finsternis. Aber eins sei gesagt: Es war nicht wichtig, gesund auszusehen. Denn während diese ganzen aus jeder Pore strahlenden Girls und Typen jetzt an ihren Fließbändern standen und aus einer in den meterdicken Beton eingelassenen Luke irgendwelchen Nonnen neidisch dabei zusahen, wie die ein freies Leben führen, hatte Cecile eine komplette Fensterfront vor sich. Und Abwechslung und all diese gutriechenden Idioten in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie dachte an psychedelische Musik aus den Sechzigern und währenddessen: Du bist kokainabhängig, Sweetheart. Du bist es. Es ist egal, wie alt du bist, es ist egal, wie alt ich bin, aber lass dir das von mir gesagt sein.
     
    Und wenige Minuten später machte sie eine ähnliche Erfahrung. Was weißt du denn bitte? Was weißt du denn von dem Klopfen in meinen Adern, wenn ich das Meer sehe? Von der Verachtung gegen, ach, all jene Menschen mit ihren kraftlosen und langsamen Bewegungen, die ohnmächtig wurden, um sich auf der Erde zu winden zwischen von Stella-McCartney- und Gucci-Schuhen abgetretenem Matsch, alle vor 1990 geboren, in konsequenter Verschwitztheit, inmitten ausgelaufener Longdrinks: Sie waren wie Algen oder Seesterne am Grund eines Aquariums, deren

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