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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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hat statt Ahnen und in seinem Haushalt Dinge duldet, mit Vergnügen benutzt, Dinge, die …
    Die altmodische, ja, die unersetzliche Fairness, auf Karikaturen zu verzichten, weil eine Karikatur nur sagen kann: Einerseits. Aber nicht: Andererseits.
    Marie, deine Mutter war jemand, der las die Times von New York.
    Mit Respekt. Ohne Respekt. Denk dir die Synthese aus. (Ich mach dir einen Vorschlag: Wehrlos.)
    Das überlaß ich euch, dann mir nachzuweisen, daß ich zwangsläufig, auf dem Weg über den Lübecker General-Anzeiger, den Völkischen Beobachter, der Sowjetunion Tägliche Rundschau und Junge Welt und Neues Deutschland, über die Frankfurter Allgemeine und die Rheinische Post, dazu erzogen wurde, am Tag eine Stunde lang mich zu unterhalten mit einer alten Tante.
    Denn wenn der Freistaat Bayern sich vorkommt als ein Brückenkopf gegenüber Osteuropa, so steckt sie es mir. Sie erinnert mich daran, daß die Post vom 7. Januar an höheres Porto von uns verlangen wird. Und ob ich es glauben will oder nicht, sie erzählt mir trotzdem weiter, was sie einen Soldaten der U. S. A. in Viet Nam hat sagen hören: »Weihnachten und Krieg sind ein Widerspruch in sich.« Schließlich verschweigt sie mir nicht einmal, daß die Familie des Präsidenten Johnson gestern »einen wundervollen, wundervollen Tag« verbracht hat.
    Und wenn ich fertig bin mit ihr, geh ich hin, und wasch mir die Hände.

27. Dezember, 1967 Mittwoch kinderglut
    Es ist der Mittwoch zwischen Weihnachten und Neujahr, also kinderglut. Marie hat dies Wort noch nicht geschrieben gesehen, nur gehört und gesprochen, sie ahnt da nichts von Verwandtschaft mit dem Deutschen. Jedoch kennt sie die Rechte eines Kindes in New York an diesem Tag: das Recht auf Schulfreiheit, auf Toben in der Stadt, durch die Warenhäuser, durch die Ubahn, ein Recht auf Vergnügen, wo es sich finden läßt. Sie wird es auch finden in einem Geschenk für mich, und wieder wird es einen so kleinen Umfang haben, als sei es gestohlen. Marie hat die Sache kinderglut, sie braucht das Wort nicht zu erkennen; ich sollte doch, und will nicht.
    Als ob ich Fieber hätte. Will etwas nicht wissen.
    Der Park ist schwarz, kalt. Vor einem Jahr war das Ufer New Jerseys weiß, hoch aufgepackt hinter eisigem Flußhellblau, und brachte einen winterlichen Vormittag am Bodensee wieder, Erinnerung an verschneite Gärten, Kapuzenkinder am Eisenbahndamm, Kirchturmknolle am Wasser, Vorland und Gebirge dort entstanden durch das Fernenlicht überm Wasser hier, und das Säntismassiv war zu denken als verborgen hinter neuem Schnee in der Luft. Der Moment der Vergegenwärtigung zerfrißt sofort beides, Vergangenes wie Jetzt. Nasser Wind an den Fenstern.
    Die New York Times hat den Erfinder des Napalm gefunden. (Die New York Times erklärt: was Napalm ist.) Der Erfinder ist ein emeritierter Professor der Universität Harvard, Louis Frederick Fieser, deutsch auszusprechen. Im Herbst 1941 bekam er den Vertrag vom Nationalkomitee für Verteidigungsforschung, Mitte 1942 war er fertig. Was er sagt:
    – Man weiß doch nicht was kommt. - Sie können doch auch nicht die Leute anklagen, die das Gewehr auf den Markt brachten, das den Präsidenten getötet hat. - Ich weiß nicht genug von Viet Nam. - Bloß weil ich eine Rolle in der technologischen Entwicklung von Napalm gespielt habe, bin ich doch um kein Jota mehr zuständig für seine moralischen Aspekte.
    Gibt es antifaschistisches Napalm?
    Die Tür zur Hintertreppe, die auch unsere Feuertreppe ist, wird mit einem Bindfaden um Heizungsrohre offengehalten. Es ist immer noch gut zu lesen, was ein Schild auf der Tür meldet: DIESE TÜR KÖNNTE IHR LEBEN RETTEN IM FALL VON FEUER. SIE IST UNTER ALLEN UMSTÄNDEN GESCHLOSSEN ZU HALTEN .
    Marie spielt: »Ich bringe meine Mutter an die Bahn.« Die Stahlstufen der gewendelten Treppe klingen xylophonen unter ihren Sprüngen. Auf der Straße geht sie in geradezu höflichem Abstand neben mir her, die Hände gemütlich in die Taschen ihres londoner Mantels gestemmt, und unterhält mich mit ihren Plänen für kinderglut: sie könnte ihre Schlittschuhe zum Schleifen bringen, sie könnte noch einmal nach Queens Plaza reisen, sie könnte bei Macy besichtigen was die Firma Lesney of Britain, Limited, neuerdings so angeliefert hat … Sie macht das geschickt: tatsächlich wird sie zurückgehen in unsere Wohnung und weiterbauen an dem »Geheimnis«, das sie mir für Neujahr angekündigt hat. Sie geht rechts von mir, und so schreckt sie den

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