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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Geschenk von der kinderglut hat sie höflich auf dem Tisch hinterlassen, eine Schallplatte von Leuten aus Liverpool mit Fragen an das Leben; aber der Zettel kündigt sie erst für neun Uhr an. Dann doch lieber kinderglut. Die Wohnung ist leer.
    It’s a PER fect EVE ning to be FEVER ish. Ein Tag für Fieber, gerade richtig.

28. Dezember, 1967 Donnerstag
    In Prag hört die New York Times das Gras nicht wachsen. Sie muß sich in Frankfurt zutragen lassen, daß Antonín Novotný in der vorigen Woche seinem Zentralkomitee nicht freundlich von Antonín Novotný gesprochen hat und ihn nicht länger würdig glaubt, der Kommunistischen Partei der Tschechen und Slowaken vorzustehen. Aber die New York Times gibt diesem tschechoslowakischen Gras nur 27 Zeilen, wenn auch auf Seite 5; sie hält es wohl für ein kleines.
    Später meinte Cresspahl, Lisbeths Leben mit ihm sei Leuten in Jerichow bekannt gewesen wie eine Geschichte, bei deren Anfang sie zugegen waren, die sie hatten wachsen sehen, die sie auch Stück für Stück voraussagen konnten, auf deren Wendungen sie wetteten, die sie wohl noch abbiegen aber nicht mehr aufhalten mochten, in die sie nicht mehr eingriffen, von der sie das Ende besser als ungefähr wußten, eher als er, der das zu leben hatte.
    Daß ihm Einer in seine Ehe hätte reden wollen, es wäre ihm vor Verblüffung Zuhören nicht eingefallen. Später begriff er, daß es also an ihm gelegen hatte, wenn sie ihn nur beiläufig, mit Vorsicht angegangen waren in den Pausengesprächen der Handwerksmeister auf dem Flugplatz, in trägem Wortabtausch, in dem sie einander in solchen Abständen bedienten, daß die Antwort am Ende überraschend kam und ein Geschichtenerzähler erst einmal auf mißbilligende Mienen rechnen mußte, so sicher er seine Erinnerungen willkommen glauben konnte. Cresspahl hatte nicht lange genug in der Gegend gelebt, mit ihm gingen die Geschichten nicht, er saß nur dabei; ihm mußte nicht gleich auffallen, daß Nachrichten für ihn dabei waren. Da ging es um einen Pferdetausch in Gadebusch, da wanderte die Erzählung weiter zu einem Rübenschneider in Rehna und stand lange Zeit auf einem Hof in Gneez und war ein Mann, der die Holzmiete eines Ehebrechers anzünden wollte und war schließlich doch auf dem Pferd nach Jerichow gekommen und warf einen Blick auf »uns’ Lisbeth« und verlor sich widerwillig im Gräfinnenwald, wenn die Frühstückszeit vorüber war. Sie sagten nicht »din Lisbeth«, nicht einmal »sin Lisbeth«, so daß er stillhalten mußte als jemand, dem obendrein Neuigkeiten angeboten wurden.
    Wie Papenbrocks Lisbeth wütend sein konnte als Kind!
    Und ging doch bloß um ein ausgeprügeltes Pferd.
    Was für schwarze Augen sie dann bekam!
    Und immer: ich; nicht: mein Vater.
    Ganz allein wull se em dat wiesen.
    Ja; aber als ob sie nicht bei sich wär.
    Betn fromm wier se ja alltied.
    Für Cresspahl waren es Neuigkeiten; auch glaubte er gelegentlich eine Warnung zu hören, eine Entschuldigung. Und doch waren es ihm bekannte Sachen, nur in anderer Blicken gesehen, vom Sehen neu. Er hatte vieles vorweggewußt von dem, was Dr. Berling aus Lisbeths Fieberreden im Krankenhaus übermittelt hatte, nur anders gesagt, anders geordnet; nun war auch dies nicht deutlich, nicht faßbar, nicht ausgesprochen.
    Es waren insbesondere Dr. Berlings Reden, die ihn zu finsterem Grübeln brachten, zu besessenem Zupacken bei eintönigen Arbeiten. Er mochte Berling nicht alles abnehmen. Was wunderliches Reden anging, so sollte Berling sich am eigenen Ohr ziehen. Jeden halbwegs kräftigen Kerl sprach der an als einen »alten Schweden«, lange bevor die Nazis ihn zum Auffinden von Verwandtschaft in Schonen veranlaßt hatten. Offenbar hatte er landeskundliche Traktate gelesen, bevor er sich niederließ in Jerichow, und zuviel von einem Oxenstjierna, unter dem die Schweden im Dreißigjährigen Krieg den Winkel nachdrücklich verwüstet hatten. Selber ein alter Schwede. Und mit seinen düsteren Andeutungen von »Krankheitsherden im Herzen der Nation« hatte er auch erst angefangen, nachdem ihm die Frau weggegangen war und in Schwerin mit einem anderen lebte, allerdings einem in der Goldfasanenuniform, der zwischen dem Reichsstatthalter Hildebrandt und der Wehrmacht dolmetschte. Berling hätte sich wohl eine andere Zeit aussuchen sollen für seine Maulerei gegen die Nazis, zumindest einen anderen Anlaß. Der saß jetzt abends allein zu Hause und kriegte den Rheinwein kistenweise von der Bahn in den Keller

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