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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Instruktion zu erwarten, so daß die Veranstaltung allmählich ausartete zu probierten und dann wahrhaftigen Gesprächen, nach dem zweiten Monat in Tschechisch, das nun nicht mehr allein Anlaß der Besuche war. Überdies zieht Professor Kreslil es vor, einer Dame sorgfältige Komplimente auszusprechen, statt sie wie einen Schüler zu belobigen, mag sie auch mit den silbenbildenden Konsonanten auf eine erbärmliche Art gestümpert haben in ihrem Hals. Es war Kreslil in seiner Höflichkeit, der der Dame und Kundin den Weg bis hoch in die neunziger Straßen ersparen wollte, der Spaziergänge vorschlug, Einladungen an den Riverside Drive annahm und auch in der Bank auftrat, ein würdiger bejahrter Herr, mager und schlenkrig in abgeschabten Stoffen, der alle seine ausgedachten Gesichtsfalten streng hält vor Verwirrung angesichts eines sechzehnten Stockwerks in einer Bank, bis er in Mrs. Cresspahls Tür treten kann mit förmlicher Verbeugung, gemessener Miene, in der das Wiedererkennen neuerdings zusammen mit Spaß aufscheint.
    Es ist nicht die Aufstockung seines Honorars, obwohl sie pro Sitzung so viel ausmacht wie die Kosten für ein Taxi her und ein Taxi zurück und er das in Bus und Ubahn fast vollständig sparen kann; das Angebot von Scherz und Kumpanei in seiner Miene ist gemeinschaftliches Einverständnis. Beim ersten Mal an der Lexington Avenue sagte er: So oft sei er vorbeigegangen an der Petschekbank in Prag und habe sich die Vorstellung nicht glauben mögen, daß die Herrschaft des Geldes ihre Augen auf Gemälden ausruhe, ihre Füße kühle und wärme an gobelinhaften Teppichen und zu ihrem Selbstverständnis antiquarischen Meublements bedürfe. Er sprach ohne Wut, ohne Auflehnung; eher belustigt und staunend, wie über Torheiten. Mrs. Cresspahl versuchte zu dementieren, daß sie schuld und beteiligt sei an der Pracht ihrer falschen Umgebung; Professor Kreslil vermochte nicht einmal dem seinen vollen Ernst zuzuwenden und blickte ihr so vergnügt in die Augen, als wolle er nur sie erkennen, nicht aber wo sie ist.
    Sie sind eine Slawin, Mrs. Cresspahl. Eine von den Obotriten; nahe Verwandtschaft.
    Daran mag es liegen, Herr Professor.
    Von der deutschen Ostsee wollen Sie sein? da oben gibt es doch gar kein Land mehr.
    Und wie ist es mit Böhmen am Meer?
    Eine Deutsche aber sind Sie nicht.
    Zuverlässig, Professor.
    Ne. Ne. Smîm se Vás na něco ptáti?
    Prosím.
    Wenn Sie Anatol sagen würden, könnte ich sagen: Gesine.
    Sie sind der Ältere, Professor.
    Vielleicht wäre es ein Recht; mit Rechten bin ich vorsichtig geworden.
    Wann immer Sie wollen, pane Kreslil.
    Gelesen wird unter seiner Aufsicht nicht mehr ein feierlicher Text aus dem vorigen Jahrhundert sondern »Študáci a kantoři« von Jaroslav Žák, »Pennäler contra Pauker; Strategie, Tricks und Abwehr«, ein 1937 erschienenes Handbuch, das mit wissenschaftlichen Gesten Gymnasiasten über Formen des Kampfes in feindlicher Umgebung zu belehren vorgibt, und immer von neuem ist der Lehrer Kreslil entzückt, daß wir es in Mecklenburg nicht viel anders gemacht haben als die hier dargestellten Schüler der Č. S. R., von der Umlenkung eines Paukers auf sein bevorzugtes Fach bis zur Behandlung der Petzer, und wenn es um die Äquivalente für die schulische Obrigkeit im Munde der Schüler geht, kann Herr Kreslil sich vergessen und doch einen deutschen Ausdruck versuchen. Aus der Antwort auf die Gefechtslage an der Oberschule in »Meeklenburg« ergab sich eine Auskunft über Cresspahls Bürgermeisteramt nach dem Kriege, bis allmählich unsere Lebensläufe in Teilen sich verschränkten. Als ich die alte deutsche Schrift schreiben lernte, verbarg der Gymnasialprofessor Anatol Kreslil seine Frau und sich bei Verwandten in einem Dorf bei Vyšší Brod, nahe der ehemaligen österreichischen Grenze. Die Schülerin Cresspahl war auf dem Fischland zu Ferien; in diesem Sommer wurden die Kreslils von Nachbarn seines Schwiegervaters an die deutsche Besatzungsmacht verraten und lebten danach in Prags Vorstädten in Verstecken bei vier Familien, die in Kreslils Erzählungen nicht als »Tschechen« vorkommen, sondern als Alžběta und Bohumír, Viktorie und Jakub, Jiřina und Mikuláš, Růžena und Emil. Cresspahls Kind lag in einem eigenen Zimmer in eigenem Bett und hörte im Halbschlaf dem Vater die Geschichte vom Erdenwallen Robin Hoods ab; die Kreslils hörten in ihrem Versteck eine jüdische Nachbarin Růžena besuchen, die ihrem fünfjährigen Kind mit dem letzten

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