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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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halb offen, dahinter ein kleiner Vorraum, wiederum mit einer luftdichten Tür, die ganz an die Wand geschlagen war. Die Anlage war Gesine als Gasschleuse erklärt worden. Damit sie Cresspahl die Gasschleuse besser erzählen konnte, stand sie auf und ging an die Treppe. Im Garten standen die Erwachsenen, unter ihnen ein Offizier mit einem Fernglas. Die Flugzeuge hingen ordentlich im Himmel, wie ein Netz, und glänzten in der Sonne. Die Stimme des Offiziers war mit einem Mal erstaunt und aufgebracht zu hören. - Die lösen aus! hörte Gesine. Sie stand wieder mitten im Keller. Sie sah, wie Klaus Niebuhr in die offene Gasschleuse fiel und von da in einer langsamen Art auf den Fußboden des Kellers geschleudert wurde. Gleich nach dem ersten Einschlag hing Mörtelstaub wie Mehl in der Luft. In einer Seitenwand des Kellers war ein Loch. Die Beleuchtung war unterbrochen. Gesine hörte das kleine Kind schreien, tastete sich zu ihm, lief mit ihm zurück zu dem Loch in der Mauer, hielt das brüllende Geschöpf der Luft entgegen. Sie war sehr tief unter der Erde. Die Kinder wurden aber an der fast völlig verschütteten Gasschleuse gesucht. Die Detonationen waren so laut gewesen, sie begriff erst nach einer Minute, daß sie schon mehrmals gerufen worden war. Weil sie das kleine Kind auf dem Arm hatte, mußte sie den immer noch liegenden Klaus mit den Füßen in die Seite stoßen, damit der aufwachte. Sie war das älteste Kind. Dann kroch er über die schräge Schuttebene nach draußen, zog sie hinterher. Jetzt hatte sie nur noch einen Arm für das Kind. Das Kind ließ den Kopf auf eine jämmerliche Weise nach hinten hängen. Sie wußte, daß es so falsch war. Sie hatte Angst, weil das Kind nur noch wimmernd heulte.
    Im Garten sah sie die Erwachsenen nicht alle, weil viele im Rasen lagen. Das Haus von Pirmann, General der Flieger, sah unversehrt aus, aber ringsum waren Krater in die Erde gerissen. Auch auf der Straße lagen Erwachsene.
    Die Kinder wurden nicht gefragt, als die Busse der Flakschule ankamen. Sie wurden eingepackt, nach Kühlungsborn gefahren, in Hotels untergebracht. In der Nacht war wiederum Alarm. Der Keller war nicht nach DIN gebaut. Sie sah die Wände voller Wasserrohre, weckte mit Flüstern Klaus Niebuhr auf, schlich mit ihm und dem Kind Günter durch das Gedränge an eine Treppe, in der die Nacht zu sehen war. Jetzt wußte sie, daß sie Angst hatte. Am Morgen war Cresspahl in Arendsee (das nun Kühlungsborn hieß. Arendsee war »Aaronssee« gewesen in den Zeiten, als hier noch die Juden baden durften).
    In dem Telegramm für Cresspahl hatte gestanden »Kinder leben«, als ob einem doch immerhin die Beine fehlen konnten.
    So kamen Gertrud und Martin Niebuhr zu zwei Kindern, die sie noch zehn Jahre lang ihr eigen nennen konnten.
    So verlor das Kind Gesine einen kleinen blauen Strohhut.
    So blieb Peter mit seiner Martha zusammen, in einem gemeinsamen Sarg in der Erde von Wustrow.
    Das Kind Gesine kannte sich inzwischen aus mit Begräbnissen. Sie wußte das mit den drei Händen Erde auf den Sarg.

30. März, 1968 Sonnabend Tag der South Ferry
    In der Č. S. S. R. ist es nun so, daß Studenten noch um Mitternacht nach dem Ersten Sekretär der Partei rufen können, und daß Mr. Alexander Dubček zu ihnen auf die Straße kommt. - Wer garantiert uns, daß die alten Tage nicht wieder kommen? war eine Frage, und die Antwort hieß: Ihr, die Jugend, es gibt nur einen Weg, und der führt vorwärts etc.
    Dort ist es auch so, daß die Parteizeitung von den U. S. A. die Rückgabe von 18,4 Tonnen Gold an die Č. S. S. R. verlangt. Es ist ein Teil des Goldes, das die Deutschen dem Land geraubt haben. 1948 schickten die U. S. A. 6,1 Tonnen zurück, haben den Rest jedoch bis heute behalten wegen der Enteignung amerikanischen Eigentums nach der kommunistischen Machtübernahme.
    Dazu fährt nun de Rosny nach Washington und macht Besuche in anderen Ministerien als er im Reisebericht angibt, versucht die Sache sowohl diskret als auch auf Taubenfüßen ins Reine zu bringen. Nun kümmern die Kommunisten sich nicht um die Grüße, die er so sorgfältig hat ausrichten lassen, und tragen die Sache auf den Markt! Am Montag wird er fragen: Mrs. Cresspahl, ist es die Mentalität der Kommunisten oder der Tschechoslowaken … Erklären Sie es mir! und wird eine Miene aufsetzen von ungeheuerlicher Neugier.
    Aber heute findet er uns nicht, heute hat Marie einen Tag der South Ferry ausgerufen, unerreichbar fahren wir auf der John

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