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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Geld ein Paar Schnürstiefel für die Deportation ins Gaslager kaufen wollte. Da Růžena die Stiefel hergab für die Reise, deren Ziel sie kannte, mochten die Kreslils bei ihr nicht bleiben, wollten lieber bei anderen hungern, bis am Hunger Frau Kreslil starb, nicht viele Tage vor der Ankunft der Alliierten; und das Kind Cresspahl aß von seiner Brotscheibe säuberlich erst die Kruste, damit das kostbare Mittelstück bis zuletzt blieb.
    Es ist vergangen, Mrs. Cresspahl.
    Nein.
    Sie hören wie ich es erzähle. Als etwas, was war.
    Ja, etwas das war.
    Lassen Sie mich von etwas anderem anfangen, Kind.
    – Bitte fassen Sie den heutigen Bericht der Times über die Č. S. S. R. zusammen, Mrs. Cresspahl.
    – Der Außenminister des Landes protestierte beim Botschafter der Ostdeutschen gegen eine Einmischung in innere Angelegenheiten.
    – Denn.
    – Die Ostdeutschen übten Kritik an der Demokratisierung der Č. S. S. R., da sie die freundschaftlichen Verbindungen zwischen den Ländern des Ostblocks gefährde und dem westdeutschen Monopolkapital nützlich sei.
    – Im Gegenteil:
    – teilt die Zeitung der Kommunisten in der Č. S. S. R. mit, es sei unerfindlich, warum dies Land die selbe Politik gegen Westdeutschland befolgen solle wie das ostdeutsche Land.
    – Ja.
    – Denken Sie nicht manchmal, nun könnten Sie wieder dort leben, Professor Kreslil?
    – Ne. Ne. Nie mehr. Nie bei den Tschechen.
     
    Das sind neuerdings die Nachmittage des Donnerstag.

29. März, 1968 Freitag
    Antonín Novotný mag für seine Person nicht anerkennen, daß die Partei immer recht hat, und zwar immer, und nämlich jedenfalls. Mögen andere verlieren, er will nicht und stößt das Mikrofon eines Rundfunkreporters aus dem Weg, dem er immerhin das hätte sagen dürfen.
    Von dem neuen Präsidenten der Sozialistischen Tschechischen und Slowakischen Republik heißt es, er sei ein Freund der Sowjets. Träger des zaristischen St. Georgskreuzes, Held der Sowjetunion, Träger des Leninordens, ehemals Verteidigungsminister, dann stellvertretender Minister für Jugend und Sport, bis die stalinistischen Säuberungen ihn ganz nach unten drückten. Dann kam Nikita Sergejewitsch Chruschtschow und fragte nach seinem guten Freunde. Eiligst holte Novotný den General Ludvík Svoboda, von der Arbeit in einem kollektivierten Dorf, und Chruschtschow umarmte ihn und ließ ihn sitzen an seiner Seite.
    Die Ernennung Ludvík Svobodas gilt als ein Versuch, die Sowjets zu besänftigen, und die Sowjets wehren sich wütend gegen die Vermutung, sie wollten die Demokratisierung in der Č. S. S. R. abwürgen. Für sie geschieht da lediglich eine »Aktivierung der Organisationen der Kommunistischen Partei und des Apparats der staatlichen Administration«, und es soll ihnen offenbar recht sein.
    In Memphis ist der Pastor King mit Dreitausenden marschiert, aber es gab Jugendliche, die liefen von der Demonstration weg, zerschlugen Schaufensterscheiben, plünderten. Die Polizei setzte Schlagstöcke und Tränengas ein. Ein Sechzehnjähriger ist tot.
    Im Sommer 1943 wollten die friedenauer Niebuhrs ihre Ferien einmal nicht auf der Schleuse in Wendisch Burg verbringen, sondern an der Ostsee, in der Nähe von Cresspahl. Cresspahl sollte ihnen Quartier besorgen. Die Nähe des Flugplatzes von Jerichow erschien ihm zu gefährlich, und er brachte sie nicht in Rande unter sondern in Rerik. Überdies wollte Cresspahl lieber allein bleiben, nicht beobachtet. In Rerik stand nur die Flakartillerieschule I (Vortragender des Lehrgangs für Flakkommandeure: Oberstleutnant Max Wachtel), und überdies hatte er den Niebuhrs dort für zwei Wochen das Haus eines Luftwaffenoffiziers beschaffen können statt nur ein Hotelzimmer für zwei Erwachsene und zwei Kinder, von denen Günter Niebuhr eben erst ein paar Monate alt war.
    Für die zweite Woche wurde Gesine nach Rerik geschickt. Das war eine Reise mit Zügen von Jerichow nach Gneez, nach Wismar, dann auf der rostocker Strecke bis Neubukow. Von da fuhr die Kraftpost die vierzehn Kilometer nach Rerik in einer halben Stunde. Sie fuhr nicht gern weg aus Jerichow, nur aus Gehorsam. Cresspahl hatte ihr mehr als einmal vorgetragen, daß sie das älteste Kind sein würde, und sie erwartete nichts als Arbeit. Sie war auch verwirrt, durch seine Anweisung, ältere Leute nicht nach »Rerik« zu fragen, sondern nach »Alt Gaarz«, wie die Siedlung geheißen hatte, bevor die Nazis sie 1938 zur Stadt erhoben und mit dem neuen Namen erinnern wollten

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