Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
tot geglaubt, als die Royal Air Force zum ersten Mal Rostock coventrierte, denn in die Konzentrationslager kamen nicht die roten Vordruckkarten, auf denen die Überlebenden von Angriffen ankreuzen konnten, ob sie überlebt hatten. Wenn irgend wo, glaubte Brüshaver sich mit der Frau in Jerichow verabredet; kam nach drei Tagen Fußmarsch in die Stadt, ausgemergelt und verstaubt, fand das Pfarrhaus von Wallschläger geräumt und seine Frau beim Fußbodenwischen. Danach dachte Brüshaver nicht an die Flucht vor den Russen, sondern an die Sonntagspredigt.
Von den alten Papenbrocks war es zu erwarten. Der Alte hatte in seinem Geschäft auch mit Lieferungen an die Luftwaffe verdient, sie würden ihm das wegnehmen. Und die Bäckerei. Und das Haus voller Flüchtlinge, er würde es nicht frei bekommen. Es war unbegreiflich, daß der Mann stillhielt. Zwar hatte er den Auszug des Adels aus dem Winkel verpaßt, er konnte nun nicht mehr einen einzigen Pferdewagen für seine Sachen bekommen; konnte es sein, daß Albert sich genierte, zu Fuß zu gehen? War es möglich, daß Albert in seiner umfassenden Weisheit versäumt hatte, Land und Geld in der britischen Zone zu verstecken? Papenbrock hielt sich nicht mehr gut, wenn er auf der Straße zu sehen war, ging mit krummen Schultern, ließ die Haare wirr wachsen unterhalb der Glatze, die nun nicht mehr elegant aussah sondern krank. Wenn Papenbrock blieb, war es seine erste Ungeschicklichkeit.
Viele dachten daran, daß Einer kommen würde: Dr. med. vet. Arthur Semig.
Es hieß, daß es eine Infamie und Treulosigkeit von den Engländern sei, Jerichow den Sowjets zu überlassen! Die mecklenburgische Seele hatte sich bei den Briten schon ein Recht auf Fürsorge eingerichtet.
Am Morgen des ersten Juli kam das Vorauskommando der Sowjets nach Jerichow, in zwei schweren amerikanischen Lastwagen. Die hielten sich nicht auf in der Stadt. Auf dem Flughafen fanden sie nur noch einen Rest der britischen Besatzung. Was an Flugzeugen noch heil gewesen war, hatten die Briten aufgetankt und in ihr Gebiet geflogen; da waren die leeren Gebäude und die Rollbahn, die Kutschenreuther hätte sprengen sollen. Die Briten hatten ihre Gefangenen bis auf den letzten Mann mitgenommen. Darunter war ein Generalleutnant gewesen, der gegenüber Papenbrock gesagt hatte, die großdeutsche Luftwaffe habe ohne die rüstungstechnische Hilfe der Sowjetunion und das Fliegerzentrum Lipezk der zwanziger Jahre nicht die großdeutsche Luftwaffe werden können. Offenbar hatte der Mann sich eine Chance bei den Sowjets ausgerechnet. Dann hatte er sich doch nach Westen verladen lassen.
Nun war noch Zeit bis zum nächsten Morgen.
Schneider Pahl hatte seine Verwandtschaft im brennenden Hamburg verloren. Er mochte nicht in die Fremde und leben müssen von einer Hilfsbereitschaft der verschworenen Deutschen, wie er sie obdachlosen Flüchtlingen verweigert hatte. Er ging mit seiner Familie ins Bruch, und alle ertränkten sich im Moor. Andere versuchten es in der Ostsee.
Dr. Berling aß von den Tabletten, die er seinen Patienten nicht hatte verschreiben mögen. Bei Dr. Berling waren die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter behandelt worden fast wie die Menschen, krankgeschrieben wenn nötig; in Gneez gab es Ärzte, die hatten solchen Kranken den Bleistift statt des Stethoskops aufs Herz gesetzt und gesagt: a. Ab! Dr. Berling hatte keine Rechnung von den Sowjets zu fürchten, und nahm sich das Leben, der großmächtige, schwermütige blage Düvel.
Von Robert Papenbrock war keine Nachricht, als daß die Sowjets ihn umbringen würden, hätten sie ihn erst. Von Horsts Frau hieß es, sie sei als Lastkraftwagenfahrerin der Wehrmacht bei Danzig in Gefangenschaft gekommen. Die Böttchers wußten von ihrem Sohn, daß er in einem Lager im südlichen Rußland war; acht anonyme Briefe hatten sie bekommen, als sein Name im moskauer Rundfunk verlesen worden war. Den Fleischer Methfessel, der von wenigen Wochen im Konzentrationslager trübsinnig geworden war, hatten die Nationalsozialisten in ein Pflegeheim verschleppt und als lebensunwertes Leben nach Führerbefehl zu Tode gespritzt. Friedrich Jansen hatte sich ins Lauenburgische verdrückt, wo sein mecklenburgisches Wirken unbekannt war; bei einer Ausweiskontrolle wurde die Pistole entdeckt, die er für den Notfall bei sich trug, und die Briten verurteilten ihn wegen des Waffenbesitzes zum Tode und erschossen ihn ahnungslos in Lübeck.
Von Alexander Paepcke hatte ein wandernder Soldat einen
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