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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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einliefen, und die Bürger gingen festtäglich auf der Strandpromenade spazieren. Die Fischer wurden von sowjetischem Militär von Bord geholt, als sie eben an der Mole festgemacht hatten, und in einen Küchenraum am Strandweg abgeführt. Die Russen stellten ihnen einen Eimer Kascha herein, und aus Furcht vor Gift ließen die Deutschen ihn stehen. Nachts wurden sie einzeln eine Etage höher geholt, über einen roten Kokosläufer, zum Verhör. Zwei Offiziere mit brettartigen Schulterstücken teilten sich in die Arbeit, einer schrieb, einer filzte. In den anderen Räumen waren Russen beim Feiern des Sieges zu hören. Wie sollte man erklären, daß eine hölzerne Wäscheklammer mit Spiralfeder nicht eine Mordwaffe war? Warum wollten die Sieger nicht glauben, daß Hanna gewöhnliche lose Baumwolle in der Hosentasche hatte, weil sie die Maschinen auf dem Kutter hatte putzen müssen, und nicht bunte Fäden zu einem Signal zusammengebunden? Am nächsten Tag wurden drei der Bootsführer abgeholt zur Kommandantur; die anderen mußten unter Bewachung zu Fuß nach Neubukow marschieren. Fischer, und marschieren! In Neubukow besann sich Hanna auf Cresspahl, der ihre Eltern in Wendisch Burg besucht hatte, und lief der Bewachung weg und kam mit Laufen und Ducken links und rechts der Straße 105 durch die sowjetischen Linien und nach Jerichow. Hanna war am Krieg vorbeigekommen, wie die Ohlerichs gewollt hatten; sie lag aber nun krank in Jerichow und konnte nicht zu ihnen.
     
    – Ist dir solch Leben auf See nun abenteuerlich genug, Marie?
    – Und Jakob? sagt Marie.
    – Jakob war nicht im Haus. Er hatte die Absschen Pferde genommen und arbeitete in einem Dorf an der Küste für einen Anteil an der Ernte. Er kam nicht oft nach Jerichow.
    – Sag mir den Anfang, Gesine.
    – Als die Treckwagen abgepackt waren, nahm Jakob alle Pferde und wollte ins Bruch reiten. Cresspahl hatte ihm die Wasserstelle beschrieben, die sicher genug war für eine Schwemme. Er war fünf Jahre älter als ich. Er gehörte zu den Erwachsenen. Er hatte ein erwachsenes Gesicht, verschlossen, streng, eigensinnig. Um den Hals und Nacken hatte er einen Verband, darunter war eine Wunde von einem Tieffliegerangriff. Ich wollte ihm gefallen und tat, als verstünde ich mich auf Pferde. Nach der Schwemme benahmen die Pferde sich munter, und Jakob fragte, ob ich galoppieren könne. Ich sagte wieder ja. Er hatte mir einen Fuchs gegeben, ein junges lustiges Tier, und ich mußte ihn gar nicht zum Galoppieren bringen. Er begann zu springen, als er seine Genossen springen sah. Und ich flog zum großen Erstaunen des Tiers kopfüber über seinen Kopf, ihm vor die Füße. Das Tier hatte sich mit solcher Gewalt angehalten, von unten sah es aus, als werde es gleich nach vorn kippen. Sah mich vorwurfsvoll an. Danach ging ich Jakob ein wenig aus dem Weg. Zwar war er besorgt gewesen, als er mich aufhob, und hatte mich erst nach vielen Beteuerungen zurück aufs Pferd gesetzt, aber er sah so still vor sich hin, daß ich mich verhöhnt glaubte.
    – Und dann?
    – Dann versteckte ich mich. Der Typhus hatte mir die Haare ausfallen lassen und mir einen Gelenkrheumatismus beigebracht in Schulter und Knie, davon hing ich ganz schief in den Gräten. So sollte er mich nicht sehen.
    – Und als er dich sah?
    – Er sagte: Dat wast wedde, wacht man. Und ich verstand wohl, daß er mir neues Haar versprach, aber nicht das andere. In Mecklenburg sagt man für Warten: Töv man. Töv man, du.
    – Dann kanntet ihr euch ja gar nicht!
    – Nein.
    – Und es war nicht der erste Tag vom Rest deines Lebens?
    – Würdest du es wissen?
    – Ja, Gesine. Ich bin nicht mecklenburgisch. Ich werde es wissen.

17. April, 1968 Mittwoch
    In der letzten Woche des Juni 1945 gab Cresspahl bekannt, daß die westlichen Alliierten sich nun mit Stalin geeinigt hatten auf den Termin, an dem sie die von ihnen besetzten Gebiete von Mecklenburg, Sachsen-Land, Sachsen-Anhalt und Thüringen räumen und dafür in die westlichen Sektoren von Berlin einziehen würden. Am Sonntag, dem 1. Juli 1945, sollten die Sowjets nach Jerichow kommen. Die Briten hatten die Reisesperre in ihrem Besatzungsgebiet längst aufgehoben, von Mecklenburg aus waren Straßen offen nach Holstein, nach Lübeck, nach Hamburg, ins Lauenburgische, ins Niedersächsische. Sollen wir mit den Engländern gehen, sollen wir bleiben?
    Nach Brüshaver konnte man sich nicht richten. Brüshaver hatte seine Frau nicht in Rostock gefunden; er hatte sie schon einmal

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