Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
seinem Kind das Bett ins Zimmer gestellt, das er 1931 in London für sich und Lisbeth gebaut hatte; jetzt lag ich darin nicht allein, sondern mit einem vierzehnjährigen Mädchen, das ich im Fieber immer wieder für Alexandra Paepcke hielt, ohne Angst, obwohl sie doch tot war. Sie lag in einem weiten Nest aus weißen Haaren, die sandig glänzten wie Alexas; wie bei Alexa sträubten sie sich winzig in die Stirn, wenn Jakobs Mutter sie kämmte; von der Seite gesehen hatte sie eine Nase wie Alexa, und sie mußte nur die Augen schließen, so schien sie Alexa beim Schlafen. Ich konnte sie nur von der Seite sehen. In der Nacht fuhr ich hoch aus dem Traum und rief um Hilfe, nach Alexandra, die neben mir lag. Sie rief nach ihren Eltern im Traum.
Ihre Eltern, die Ohlerichs in Wendisch Burg, hatten Hanna nach Warnemünde geschickt, zu Fischerverwandtschaft, damit das Kind während der letzten Kriegshandlungen auf See sicher war. Davon sprach sie im Wachen. Am 1. Mai war sie mit dem Kutter ihres Onkels aus Warnemünde ausgelaufen, zusammen mit deutschen Ubooten. Vor der Küste lagen noch deutsche Kriegsschiffe. Am Rerikriff kamen deutsche Flugzeuge aus dem Himmel und schossen den Kutter leck. Nach drei Tagen auf der Insel Poel hatten sie das Schiff wieder fahrtüchtig. Im Hafen von Timmendorf landeten Barkassen immer noch Wehrpflichtige an. Dann versuchten polnische Zwangsarbeiter den Kutter auszuplündern, und sie liefen aus nach Wismar. Immer noch deutsche Kriegsschiffe auf der Reede. Von einem wismarer Handelsschiff übernahmen die Ohlerichs Lagerbestände mit der Weisung, den Kutter bei Annäherung sowjetischer Fahrzeuge zu versenken. Hanna versuchte, am Stand der Sonne die Zeit zu schätzen und wie viele Schwimmstunden nun noch übrig waren bis zur dänischen Küste. Als sie in Gedser ankamen, wurden sie von britischen Maschinen beschossen; die ließen erst ab, als die Familie ein weißes Bettlaken aufzog. In Gedser war immer noch Großdeutschland, eine Wehrmachtskommandantur verwaltete den Hafen und S. S. bewachte ihn. In Gedser lagen Verwandte aus Rerik, sie waren aber auch schon am 2. Mai ausgelaufen und wußten nichts von den Eltern in Wendisch Burg. In den Viehverladeställen wohnten Flüchtlinge aus Hinterpommern und Ostpreußen auf Stroh. Im Hafen lag eine deutsche Eisenbahnfähre, in deren Salon wohnte ein General der Wehrmacht mit einer Schwägerin. Seine Stabsoffiziere kampierten auf der Kommandobrücke. Nach der Kapitulation übernahmen Leute vom dänischen Widerstand den Hafen, und die Flüchtlinge bekamen Essen aus den Feldküchen der S. S., dann auch Butter und Brot und Käse, und weil die Lebensmittel von Deutschen ausgegeben wurden, war die Butter sternförmig aufgeteilt. Mitte Mai wurden die Flüchtlinge aus den verschlossenen Ställen gelassen und zur Internierung nach Nyköbing gebracht; die Fischer aber bekamen Fahrbefehle nach Flensburg. Die Ohlerichs fuhren nach Niendorf, dort hatten sie Freundschaft seit den zwanziger Jahren, als sie gemeinsam mit der Ringwade gefischt hatten. Auf Hannas Drängen fuhren sie nach fünf Wochen südwärts, wurden von Travemünde aus nach Wismar eingesetzt. Wismar hatte Hunger, und der englische Stadtkommandant begrüßte die Fischer. Sie waren ihm sehr kostbar, und er schickte den Kuttern Schnellboote mit, denn auf Poel lagen jetzt schon die Sowjets und versuchten Fischerboote für sich aufzubringen. Das Schnellboot fuhr im Kreis um die zehn Kutter herum, da hol du mal einen Fisch aus dem Wasser. Dann sah der Kommandant von Wismar ein, daß das Fischen im Verband nicht genug Fang brachte, und die Kutter durften selbständig fahren, mit einem englischen Soldaten an Bord. Die Ohlerichs mußten den ihren in Wismar aus dem Bett holen, wieder schlief er unter Deck bis vier Uhr. Er kochte dann Tee, und gab Hanna davon und von dem Zucker ab. Als Ohlerich eben seinen ältesten Jungen nach Itzehoe schicken wollte, Netze kaufen, hieß es in Wismar, das Gebiet werde ausgetauscht. Die Sowjets waren schon an der östlichen Grenze Wismars stationiert, kamen nachts durch die Grenzzone in die Stadt. Die Ohlerichs entschlossen sich zur Rückkehr nach Warnemünde, sie hatten ein Haus in der Stadt, und Hanna schien es näher an Wendisch Burg. Auf der Höhe von Kühlungsborn wurden sie beschossen, trotz der roten Bettinletts am Mast und der weißen Armbinden. Es waren viele Kutter unterwegs, und auf allen waren Frauen an Bord zu sehen. Es war ein Sonntag, an dem sie in Warnemünde
Weitere Kostenlose Bücher