Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
heiß am ganzen Leibe. Kopfschmerzen, als wolle etwas an den Schläfen nach draußen. Er drückte den Bauch gegen den Tisch als könne er sich so festhalten. Der Landgerichtsdirektor Wegerecht von früher hatte mit genüßlich ausgreifenden Armen geredet; dieser hielt seine Hände flach auf den Papieren. Von unten gesehen war er ein strenger, erzürnter Vertreter des Gesetzes, als er fragte: Was sie sich gedacht hätten.
    Warning hatte sich nichts gedacht.
    Hagemeister hatte gedacht, es sei ja nichts zum Zuhören gewesen. Bei der Stille hinter den anderen Abteilwänden habe man denken können, der ganze Wagen sei leer.
    Jetzt hatte die Staatsanwaltschaft eine Frage, aber so unverhofft und ordentlich, als sei Dr. Kraczinski aus einem Schlaf hochgefahren oder als habe er einen festen Vorsatz gegen den besten Willen vergessen. Wie die Angeklagten denn auf Griem gekommen wären. Was für Äußerungen vor der bezeugten gefallen seien.
    Erstlich eins: sagte Hagemeister. Kraczinski winkte ab, als sei ihm etwas eingefallen. Hagemeister war nun darauf gekommen, daß Warning bei Griem zu dessen Ackerbürgerzeiten in Dienst gewesen sei, und Warning versuchte das aufs eifrigste zu bestätigen, aber ehe sie noch zu Rande kamen, waren beider Blicke ratlos zu Wegerecht zurückgeschwenkt, weil Kraczinski nicht tat wie ein Zuhörer.
    Wegerecht rief die Zeugin Cresspahl auf. Kraczinski tat erstaunt.
    Lisbeth war nicht die Handwerkersfrau, schwerfällig, beflissen oder störrisch, die Dr. Wegerecht erwartet hatte; die da ankam mit nicht gesenktem Gesicht, sicherem Schritt, in einem schwarzen Tuchmantel mit Samtkragen, das war eine Tochter von Papenbrock, uneingeschüchtert, ausgesucht in der Kleidung wie im Auftreten. Die weltliche oder die religiöse Form des Eides, Frau Cresspahl?
    Die religiöse. Und Lisbeth hatte nicht nur erinnert sondern auch nachgelesen, was der Mecklenburgische Christliche Hauskalender für den 29. Oktober 1937 empfahl; Matthäus 10, Vers 34 bis 42.
    Sie habe es damals gehört. (Think not that I am come to send peace on earth: I came not to send peace, but a sword.) Mit »damals« meine sie, daß sie den Wortlaut nur noch aus den Vorhaltungen der Kriminalpolizei wisse. (He that loveth father or mother more than me is not worthy of me: and he that loveth son or daughter more than me is not worthy of me.) Sie wolle nichts abstreiten, als daß sie sich erinnere; wenn aber ihr Bruder, Horst, wenn er es so von ihr erzählt habe, habe sie es so gehört und sei es wahr. (And he that loseth his life for my sake shall find it.) Im Gegenteil, die Gelegenheit sei zum Zuhören vorzüglich gewesen, ein Sonnabend im hohen Juli, mittagsstill, der Zug von Gneez nach Jerichow kaum besetzt, und wenn er in Wehrlich halte, sei der Wind vom Gräfinnenwald verschluckt. Sie habe sogar die Hühner des Stationsvorstehers scharren hören können. (And he that receiveth me receiveth him that sent me.) Sie könne die Frage nicht verstehen. Wieso sie nicht selber eine Anzeige erstattet habe? weil es dumm Tüch sei. Unsinn, Quatsch. Nonsense. Nicht klug im Kopf. Nur jemand, der von Jerichow nichts kenne, sei zu solchen dowen Vermutungen über Dr. Semig oder Griem imstande, und Hagemeister wisse das so gut wie sie. (And he that receiveth a righteous man in the name of a righteous man shall receive a righteous man’s reward.) Das habe nichts mit der Begünstigung von Juden zu tun, nur mit der Wahrheit. (And whosoever shall give to drink unto one of these little ones a cup of cold
water
only …)
    Als Wegerecht sich bei ihr bedankt hatte, blieb sie vor ihm stehen. Sie mußte zur Bank geführt werden. Mit einem Mal sah sie aus, als habe sie sich vorbereitet auf eine lange Reise, etwas Ungewisses. Die Gebärde, mit der sie sich den Schal unterm Mantelkragen hervorzog, hatte etwas Verwundertes.
    Griem, massig, jovial, fast mit Fröhlichkeit versehen in seinem prallen, wetterfesten Gesicht, staatsmächtig in Uniform: Nicht daß er wüßte. Dummes Geschwätz. Solche armen Würstchen könnten ihm nur leid tun. Er verzichte auf Strafantrag. Eine Lehre. Ein Denkzettel. Ohne dem Gericht vorgreifen zu wollen.
    Die Staatsanwaltschaft beantragte einen Verweis für den Zeugen Griem wegen unerbetener Beratung des Gerichts. Das war der Kraczinski von vor nur zehn Tagen, scharf, beutegierig, niederhackend wie ein Hühnerhabicht. Der Kraczinski, der dann keine Frage mehr hatte, paßte zu dem nicht.
    Dr. med. vet. Semig kam gesenkten Gesichtes in den Saal,

Weitere Kostenlose Bücher