Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Genossen ihres Vaters begraben sind, wenn sie begraben sind. »Wir müssen mit allen Mitteln jene unterstützen, die unter unerträglichen Bedingungen ehrlich und tapfer bleiben«: ist ihr auch noch eingefallen; nächstens wird sie sich verwundern, daß die Tochter von Isaak Babel oder die Witwe von Ossip Mandelstam ihr nicht danken für erwiesene Hilfe. »Eine barbarische Farce von Gerechtigkeit« sieht sie vorgefallen. Sie hat ja recht.
Wegerecht wurde gerettet.
Er glaubte es nicht, bis zum Ende. Unverhofft hatten seine schweriner Freunde (insbesondere Theo Swantenius, der Jurist unter den vier Brüdern) auch ein Reichsministerium an der Leitung, und zwar war alles laut und klar zu hören, aber es war das Gegenteil, so daß es so verräterisch sein mochte wie das Vorige, und nicht einmal Gewinn war noch versprochen. Inzwischen war es zu spät, die geborene von Oertzen mit Gewalt hineinzuziehen; er ließ sich von Gisela das Frühstück so zeitig herrichten, wie er jetzt aufwachte, so daß er noch die Kinder sah, nicht aber die Frau. Einmal vertat er sich in Gedanken und nahm das Pflichtmädchen für die Frau, und seufzte; aber Gisela kam aus Thüringen, und so konnte sie die Zustände des Landgerichtsdirektors nicht im Jerichower Winkel unter die Betroffenen bringen, nicht einmal in Gneez.
Die erste Anweisung kam als ein Tadel: Der zuständige Richter möge sich auf den Namen des Verfahrens besinnen. Seit wann denn Zeugen einvernommen würden, solange die Angeklagten in freier Wildbahn, etc.
Wegerecht brachte nicht den Mut auf, Semig nach Hause zu schicken. Er glaubte begriffen zu haben, daß er Warning und Hagemeister einsperren solle. Das war im letzten Drittel des Oktober.
Mit Kraczinski ging es wie erwartet. Der Staatsanwalt hatte Wegerecht nur eben Zeit lassen wollen, auf den Schlitten der Anklage zu steigen, und tat des Richters neue Einfälle zur Führung der Verhandlung obenhin ab, nahezu geringschätzig. Kraczinski war siegesgewiß. Wegerecht mochte das nicht, auch nicht die prall geschürzten Lippen, die pfiffigen Blicke, das behagliche Gesumm. Kraczinski hatte etwas Rechnerisches. Er hatte sich etwas ausgerechnet unter seinem Schülerscheitel, in seinem Primanerkopf.
Wegerecht wollte es hinter sich haben und eröffnete das Verfahren am 29. Oktober.
Tat das Barett zurück auf seinen heißen Kopf, raffte den Talar zurecht, ließ sich nieder. Er war hochrot im Gesicht, sah gesund aus wie ein verwöhntes Kind, aber gekränkt. So aufmerksam war er. Er konnte nicht gut sehen an diesem Morgen.
Sein Ältester hatte ihm beim Frühstück etwas erzählt von Ausfallen der ersten Schulstunde. Es war der Geburtstag des Reichsministers für Aufklärung und Propaganda, des Reichsleiters Dr. Joseph Goebbels. Einen Tag vorher, und das Urteil hätte eher im Sinne des Erasmus von Rotterdam ergehen dürfen.
Während die Strafsache gegen den landwirtschaftlichen Arbeiter Paul Warning und den Forstangestellten Siegfried Hagemeister wegen Vergehens gegen das »Heimtückegesetz« verlesen wurde, suchte Wegerecht unter den Zuschauern nach unvertrauten Gesichtern. Er fand nicht Besuch aus der Landeshauptstadt, weder in Uniform noch in Zivil. Das war gut; oder aber er war schon so weit abgeschrieben, daß ein Beobachter vom Ort ausreichte. Es tröstete ihn kaum, daß er die Jerichower im Zeugenzimmer hatte sitzen sehen wie Schafe im Regen.
Die Anzeige eines von Verantwortung gegen Partei und Staat erfüllten Volksgenossen, von der Anklage eingeführt, war ordnungsgemäß abgefaßt, beschworen, unterschrieben. Da hatte jemand geholfen, beraten, Ritzen gedichtet. Wer?
Warning und Hagemeister waren gar nicht aufzuhalten, so bereitwillig gestanden sie ein, daß sie im Sinne der Anklage sich unterhalten hätten. Beiden war in die Glieder gefahren, daß sie in die Keller neben dem Juden Semig gebracht worden waren, als ginge es doch nicht bloß gegen ihn, sondern auch um die eigene Haut. Hagemeister war gelassen, zuverlässig, so sich ähnlich, daß es nicht anzuhören war wie eine Wiederholung, sondern wie der Anfang eines neuen Gesprächs, als er sagte: Und sieh dir solche an wie Griem.
– Jeah: sagte Warning. - Früher hatte er ganz dicke Brühe mit Semig, konntest du gar nich umrührn. Schetz is Griem Oberfeldmeiste ode so was bei’n Reichsaabeitssiens.
Die Staatsanwaltschaft hatte keine Fragen. Verdammt noch mal.
Dr. Wegerecht wunderte sich, daß er nicht einmal in den Handflächen naß war, und fühlte sich doch
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