Jahrestage 2
nicht lachhaft, nicht verächtlich. Eher rührend nahm sich aus, wie sie über den Tod der Herald Tribune erschrak, wie ihr die Verschlingung von gleich drei Zeitungen durch eine Konkurrentin auf den Magen schlug, wie sie sich herauszuwinden versuchte aus ihrem Dilemma, daß sie ihre Leser in einem zu erziehen und zu interessieren suchte! Wie tapfer sie sich zur geschichtlichen Erklärung eines Vorfalls nun noch seinen gegenwärtigen Funktionszusammenhang abzwang, und mit angehobenem Kinn so tat, als wär nichts!
Wir zeigen den Lesern, wie die Katze springt. Die Öffentlichkeit kümmert sich dann um die Katze.
Wer macht das in ihrem Alter, so eine Kur zur Verjüngung, und schickt ihre Leute nicht mehr nur vor die Mauselöcher der Polizei, Behörden, Botschaft, Nachrichtendienst, Entbindungsheim und Krematorium, nachdem es so würdig und bequem gewesen war, das Erlegte sich vorlegen zu lassen, es gewissenhaft zu betrachten und sodann im Bewußtsein der Verantwortung zu beschreiben! Nein, sie nimmt Platz, schlägt die Beine übereinander, läßt sich den Tee servieren mit Rum, kaut auf ihrem in aller Welt geachteten Zigarillo, und denkt nach. Schon hat sie es. Sie hat bisher, nehmt alles nur in allem, aus den kleinen wie den großen Städten der Welt, auf das Tüpfelchen exakt berichtet: was da passierte, wer beteiligt war, bei welchem Wetter, auch wie es weiterging. Da war doch noch was, da war doch noch was -? Richtig, um was das Gespräch in diesen Städten geht, und sie bietet an ab sofort, fest zur Abnahme: Das Thema Nummer Eins in Hannover, oder: in Moskau, damit die täglich dorthin versandten 40 Luftpostabonnements doch einen ganz unerwarteten Sinn bekommen. Weiterhin, von nun an auf Lager: Der Mann des Tages, Biographie, Hauptbeschäftigung, Nebenbeschäftigung, Ziele, Gegner. Und als sei das nicht genug, sie geht hin und auf die Suche nach Dingen, von denen sie bei ihren Lesern nicht befriedigende Kenntnisse voraussetzt, in der eigenen Stadt! und hält Vortrag, in knappem Ton, immer wieder charmant: über die Lebensgewohnheiten verschiedener Gruppen von Minderbemittelten, Obere Westseite, Untere Ostseite; über die Mixtur aus Strukturproblemen und Grundstücksproblemen in White Plains, Fremder, kommst du nach White Plains …; über die emotionalen Verflechtungen der Andersfarbigen in den Ghettos nicht nur von Harlem, auch von Williamsburg und Bedford-Stuyvesant, ist doch auch mal interessant; und streng richtet sie sich auf und verleiht den Nachrichten, die nicht Nachrichten sind, den Rang von Nachrichten! Es ist ja nicht so sehr, daß sie die Fakten zu belegen sehr wohl willens und in der Lage ist; es geht darum, daß sie sie gefunden hat, die alte Tante Times. Da denkt man immer, die Jungen würden endlich nicht länger ihren Pflichten und Aufgaben sich entziehen, aber nein, alles muß man selber machen! Zwar hatte sie an ihre Reputation zu denken und tat dergleichen nicht gerade auf die Titelseite, sondern vorn auf das zweite Blatt; mochte da eine Entschuldigung angedeutet sein, die sittliche Vorbildlichkeit war doch unstreitig. Und wieder tat sie Gutes und wies mit dem allerzartesten Timbre darauf hin, daß ja sonst Keiner dazu sich überwinde: von der Polizei erfuhren wir mit einem Mal nicht bloß die Entlassungen, Festnahmen, Korruptionen und Beförderungen, sondern wie die Polizei sich im Grunde des Herzens selber erfühlt, wem sie in welchen Fällen nun aber mal zuverlässig gehorchen muß, was die von ihr vorgeführten Angeklagten eigentlich so für Rechte haben und daß mindestens 800 000 Leser der Times gefälligst solche Politiker zu wählen hätten, die der Polizei zivile Kontrollausschüsse überzuordnen wahrhaftig im Sinne haben, auf Ehre.
Das ging daneben, und vielleicht weil die anderen sieben Millionen Einwohner der Stadt in einer Sprache denken, die sich die New York Times verbietet, weil sie mit Sachen leben, die eine Dame von Welt nicht einmal als Worte in den Anzeigen ihrer Kunden zuläßt: Nuditäten, homosexuell, Fleischeslust, nackend, nichts an, Minihöschen, pervers …: siehst du nicht ein, daß sie anders ihre Rolle als Tante nicht durchstünde, Marie?
Sie erspart mir den astrologischen Quatsch, Marie. Sie ist ja nicht an allen Stellen verheddert in der Aufklärung, die man ihr 1896 in einem genfer Pensionat verabreicht hat.
Keine Comic Strips für dich, zu meinem Bedauern. Willst du von ihr verlangen, daß sie lebt wie ein gewöhnlicher Bürger der U. S. A., der Eltern
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