Jahrestage 2
Konzernen der Stadt sind Juden. Jawohl. Sprichst du vom Balken in meinem Auge, spreche ich von deinen Splittern. Eine ablehnende Haltung gegen jüdische Führungskräfte nehmen vor allem Banken, Versicherungen, Speditionen und Anwaltskanzleien ein. Da habt ihr es. Und heute gehen die Hearings weiter, und wir werden ja sehen, was dabei noch alles herauskommt!
So kenn ich sie gar nicht.
Ein keifendes, tückisches altes Weib mit schlechtem Gewissen. Von der läßt du dir erzählen, wie es auf der Welt zugehe, wenn du nicht hinsiehst. Und oft kannst du nicht hinsehen, Gesine.
Gilt das nicht, daß sie ihre Schande selber besorgt hat?
Lieber doch läßt sie sich der Lüge durch Umschreibung bezichtigen, als durch Unterschlagung.
Aber sie hat es doch nicht versteckt. Sie verweist darauf im Inhaltsverzeichnis.
Da sieh mal genau hin, Gesine. Da steht es nicht wie in der Überschrift. Diese letzte Gelegenheit hat sie sich nicht verkneifen mögen. Da steht nicht, der Vorwurf gehe auf ein falsches Bild der Gesellschaft. Da steht »falsches Bild«.
Wenn ich diese Tante aus dem Haus werfe; wer soll nach ihr kommen?
Du willst ihr das zugetraut haben.
Wenn ich zugebe, sie sei mir heute unerwartet gekommen; was sage ich dann über mich? Nein.
19. Januar, 1968 Freitag
50 Damen waren gestern ins Weiße Haus geladen, die Kriminalität auf der Straße zu diskutieren, unter ihnen die New York Times und die Sängerin Eartha Kitt. Miß Kitt wußte eine Antwort auf die Frage, warum junge Leute auf der Straße rebellieren, warum sie Rauschgift nehmen und auf die Schule verzichten: »Weil man sie von ihren Müttern wegreißt, damit sie in Viet Nam erschossen werden.« »Ihr schickt die Besten des Landes in Tod und Verstümmelung.«
Zwar war die Frau des Präsidenten blaß, aber sie stand auf und erklärte mit zitternder Stimme, unter aufquellenden Tränen: Mit Gewalt könne man nicht alle Probleme lösen.
Eartha Kitt: Die anderen Gäste kennten die Ghettos von Ausflügen; sie aber habe in der Gosse gelebt.
Mrs. Johnson: Ich kann nicht die Dinge verstehen, die Sie verstehen.
Miss Kitt: Da ist wohl was verfehlt worden.
Die Times erzählt die Geschichte fast als erste. Wollen wir uns noch einmal vertragen?
Lisbeth Cresspahl glaubte sich nun im Streit auch noch mit Jerichow, darin über zweitausend Leute waren, nicht gerechnet das Vieh. Sie wollte gar nicht verziehen haben, daß sie vor einem Gericht gegen andere ausgesagt hatte; blieb ihr so doch die Schuld erhalten. Vorsorglich verzieh sie obendrein jenem Robert, der ihr die Auftritte dieses Herbstes zugemutet hatte, und verzieh wiederum Cresspahl, der ihr gemütlich angekündigt hatte, er werde den Denunzianten aus dem Haus und durch den Stacheldraht werfen. Dabei heimste sie eine Prüfung mehr ein. Anzusehen war ihr nach dem Prozeß nichts an Bedrückung, und Cresspahl glaubte wiederum eine Zeit mit Vernunft an der Reihe (an Krankheit mochte er nicht denken). Es war eher so, daß Lisbeth nicht mehr in reinlichem Nacheinander von ihrer Verwirrung und dann der Ungestörtheit überkommen wurde; oft muß ihr eine Mischung aus beiden Zuständen im Kopf gehangen haben. Denn sie war weniger als vorher zu Gängen in die Stadt zu bewegen. Obendrein von Blicken verurteilt werden, das wollte sie nicht, und hätte doch so ihr Konto an Leiden aufstocken können. Zu Besorgungen, die sie bei bestem Willen nicht an Louise oder Aggie Brüshaver abwälzen konnte, stieg sie nicht in Gneez aus, sondern nahm da den Zug nach Lübeck, und nämlich ein Abteil der ersten Klasse. So beugte sie Gesprächen mit Bekannten aus dem Jerichower Winkel vor; so zog sie sich die Nachrede von Verschwendung zu. In Lübeck hatte sie nicht viel Begegnungen zu fürchten, nicht in Läden oder Kaufhäusern. Oft blieb sie länger als sie mußte, wußte zu Hause zu erzählen von der neuen Ansicht des Holstenhauses, dem das Bauamt der Nazis neue Giebel angesetzt hatte, wie den alten gotischen Häusern in der Königstraße, in der Mengstraße, im Schrangen, als sei so bewiesen, daß in Deutschland doch weniger für den Krieg gebaut wurde als Cresspahl wußte. Er ließ sich darauf nicht ein, er hatte dem neckenden Ton mißtrauen gelernt; er sah sie an. Dann dachte er an die Zeit in England, an ihre müßigen, unbesorgten Gänge durch die fremde Stadt, an den klaren Blick, mit dem sie einmal in Richmond an ihm vorbeigegangen war. Es war der Blick Einer, die sich allein weiß; jetzt war er starrer geworden, eigensinniger,
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