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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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gemault, ich habe dir nicht richtig geantwortet, bloß wegen dieses Wahlbeamten Lindsay war ich unverträglich.
    – Vergiß es.
    – Und wenn ich wieder vergesse, wie mein Vater war, sag es mir.
    30. April, 1968 Dienstag
    Was hat die Angestellte Cresspahl zu suchen in einer der obersten Schubladen im Flughafen Kennedy, obendrein mit einem Kind? Das Restaurant heißt Zu den goldenen Lüften, wenn nicht noch höher hinaus, da berechnet die Geschäftsführung schon die dreimal gefilterte Kaltluft, die Tische sind mit wahrhaftigem Leinen gedeckt und mit Edelstahl teuerer als Silber, die kojenähnlichen Abteile halten Abstand von einander und sollen pfeifen auf die Kostenintensität je Quadratfuß, sie werden als Inseln gehalten von eigens in Italien gefertigten Lampen, und die eingebaute Musik ist so vornehm gedrosselt, fast ist es still hier. Fast ist es kein amerikanisches Restaurant. Mögen hier Touristen aus Europa sich an die Rückkehr gewöhnen oder Inländer sich einstimmen auf die fremden Sitten in Übersee, heftig bezahlen müssen sie alle, und vorerst halten die Kellner, bunt befrackt nach dem Muster verschollener Hoftrachten, die Mutter mit Kind am Fenstertisch drei für ein Risiko.
    Die Dame, dreißig oder fünfunddreißig alt, sie ist gekleidet wie es paßt zum Etablissement, jedoch in solchen Kostümen tarnen sich auch Personen, die sind am Ende weiter nichts als Tippmädchen in der Schreibtischindustrie von Stadtmitte. Das Haar hat ihr ein Friseur geschnitten und gelegt, es ist doch nicht viel mehr daraus geworden als eine achtlose Kappe bis zum Nacken, Herrenschnitt nahezu, und es kann ein Salon im tiefsten Queens getan haben, statt einer an der Madison Avenue. Trägt keinen Schmuck, hält einen langen nackten Hals für genügend. Fünfunddreißig Jahre alt. Kein Akzent, aber europäische Handtasche.
Keine
weißen Schuhe. Wer weiß, am Ende ist die mit einem gewöhnlichen Bus hergekommen vom East Side Terminal, womöglich hätte sie das Geld für einen Flug nie und nimmer, geschweige denn für ein Abendessen in den Goldenen Lüften, und wird die Zechprellerei bezahlen mit einem Auftritt vor dem Nachtgericht in Manhattan Süd.
    Die Geschäftsführung hat solche Verluste nicht wahr, für die kommt ein Zahlkellner auf aus eigener Tasche. Es wäre nicht das erste Mal. Da kann jeder aus Washington einen Tisch buchen über Scandinavian Airlines System, Fensterseite für zweieinhalb Stunden, und sich nennen Professor Erichson. Die Dame ist kein Professor.
    Das Kind, allerdings. Die junge Dame. Ein Kind für Restaurants. Eine Schülerin der vierten oder fünften Klasse, die fürchtet sich nicht vor dem Geld, das sie hier einatmet, das sie hier in der Gestalt von Edelholz, Schafswolle und anmutigem Kellnerschritt belauert. Die hat schon öfter Speisekarten aus Leder und Pergament aufmerksam lächelnd entgegengenommen und zur Seite gelegt, als sei Zeit nicht Geld. Bestellt sich Wasser. Es steht aber ein Krug voll Wasser und mineralischem Eis vor ihr, nun tut sie bescheiden, will das Glas umgedreht haben, eingegossen bekommen, wie ein Geschenk. Sagt E-hem statt danke-vielmals, kostet vom Kostenlosen und nickt einem Kellner zu wie einem Weinzüchter. Vielleicht ein ausländisches Kind. Solche langen Zöpfe tragen sie hier nicht, die Klammer könnte auch von Tiffany sein statt von Woolworth, und so helles Haar mit sandfarbenem Schatten drin, das fährt allenfalls die Scandinavian an in Kennedy, so viel ist wahr. Das Kind hat nicht die Ellenbogen auf dem Tischtuch, wie Kinder tun, sie hält die Hände locker gefaltet, und nicht ums Glas, an den Ellen aufgestützt, wie sie das auf den Töchterschulen lernen. Spricht spaß-süchtig ein auf die eher wortlose Kundin, in tief gehaltenem Sopran, nur manchmal geht ihr ein Ton hoch, das hört sich kindlich an. Oder britisch. Man geht da vorbei, blicklos, und läßt sich den Blick zur Seite ziehen und schenkt der jungen Dame ihr verdammtes nichtberechenbares Wasser nach und bekommt eine anerkennende Miene zum Lohn, ein kumpelhaftes Nicken geradezu. Grau und grüne Augen, anders als die der Mutter. Doch ein recht bewegliches Gesicht. Die Lippen nicht von der Mutter. Unterbricht sich gar nicht in der Gegenwart des Bediensteten, erzählt fort von einem Koffer voller Puppen. Offenbar eine Geschichte von einem ganz anderen Kind, eine neuerdings lustige Geschichte. Die möchte die Kundin aufmuntern und sie doch nicht stören; kann die nebenher lachen in den Augenwinkeln über

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