Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Republik sollte es tun.
Sie töten?
Sie bestrafen.
Sie für ihre Morde vor dem Selbstmord verhaften?
Ja, D. E. Faire Prozesse und all das.
Dazu müßten die Kommunisten erst einmal an der Macht sein in der Č. S. S. R.
Siehst du. Aber ein Stalinist, der frühere Minister für Staatssicherheit, stellt sich hin und sagt einer slowakischen Zeitung: Stalins Befehl war es.
Dem geht es nicht schnell genug, Gesine.
Aber die tschechischen Zeitungen tun, als hätt er vom Wetter gesprochen!
Dein Herr Dubček, er darf die sowjetischen Freunde nicht kränken, und sei es mit der Wahrheit.
Aber die Sowjets haben seit zwanzig Jahren Weizen geliefert in die Č. S. S. R., und nun verweigern sie es.
Sie werden jenem Stalinisten noch einen Orden anhängen, weil er von Stalins Verbrechen sprach.
So eine hausgemachte Dialektik.
Du wirst sie wieder lernen müssen, Gesine.
O. K. Also wir vermitteln kanadischen Weizen für Prag.
Es ist nur ein Umweg, Gesine.
Über solche Umwege möcht ich was sagen. Wenn Marie fertig ist.
Marie hat das Wort.
– John Vliet Lindsay ist ein …: sagt Marie. Sie hat gewartet, bis das Wiedersehen zuverlässig angefangen hat, sie hat ihren D. E. betrachtet und wird ihn abermals nicht stören in der Grübelei, in der er hängt seit Februar, die kann er verschweigen, nicht verstecken. Jedoch Veränderungen in der Familie müssen D. E. zur Kenntnis gebracht werden. Sie hat für ihre neuere Auskunft über Bürgermeister Lindsay wahrhaftig den Rücken steif machen müssen und eigens Atem holen, und die Stimme klirrte ihr noch.
– John Vliet Lindsay ist ein …: sagt D. E., und übertrumpft sie noch im bösen Leumund. Es ist ein Wort, das kennt nicht jedermann in New York, es gehört sich gewiß nicht für die Ohren um unseren Tisch herum, und es sollte vor Kindern nie und nimmer in den Mund genommen werden. Aber Marie ist getröstet. Sie hat D. E. auf die Lippen und in die Augen gesehen, sie hat im Gedächtnis verglichen, was D. E. früher über ihren aufgegebenen Freund geäußert hat, sie glaubt ihm. Sie lacht in sich hinein, ein wenig geniert von dem nicht erwarteten Wort, sehr erfreut, weil sie Antwort bekam wie eine Erwachsene. Jetzt können wir anfangen.
– Dein Weizen blüht ja, Gesine: sagt D. E.: Dein kanadisch-sozialistischer Weizen: sagt er.
So sollten wir zusammen bleiben, er wünscht es sich. Es ist schade, daß er schon wieder die linde kreischenden Motorengeräusche vor dem schwarzen Fenster abhorchen muß nach der einen Maschine, die ihn abholt und wegbringt, gewiß nicht auf einem Linienflug nach Skandinavien. Vielleicht noch anderthalb Stunden, und der Kellner wird ihm einen Zettel bringen mit einer Telefonnummer, oder er trägt ihm ein Telefon an den Tisch, und es ist schade. Es wäre anders, würden wir mit ihm leben wollen. Marie wäre einverstanden. Er wird nicht mahnen. Es fehlt nur ein Wort, ein ausgesprochenes. Warum ist es nicht möglich?
1. Mai, 1968 Mittwoch
In der Heimat, der westdeutschen, wie geht es da?
In Stuttgart hat ein Gericht nach 144 Sitzungen und anderthalben Jahren einige Soldaten der S. S. verurteilt, die die jüdische Bevölkerung von Lemberg als Sklaven hielten und sie im Lager Bełżec endgültig umbrachten. (Wenn einer die Gefangenen nicht erschießen mochte, taten die Oberen ihm nichts.) In Lemberg starben an den Deutschen 160 000 Menschen, in Bełżec eine Million und fünfhunderttausend, und nur einer der Schuldigen soll fürs Leben ins Gefängnis. Von einem anderen befindet das Gericht, er sei die meiste Zeit betrunken gewesen, und er bekommt nur zehn Jahre, weil Milde walten dürfe.
In Baden und Württemberg haben die Neuen Nazis 9,8 vom Hundert in den Landtagswahlen gewonnen, das sind 12 von 127 Sitzen. Jeder zehnte auf den Straßen Baden-Württembergs …
Elf Länder hat der Bund von Westdeutschland, und in sieben von ihnen sind die Neuen Nazis bereits vertreten. Es soll dem Kanzler Kiesinger peinlich sein, Nazi der er war, und sein Kompagnon Brandt, der Anti-Faschist, er soll den Verlust an Vertrauen bedauern. So heißt es.
Einen gesalzenen Preis nennt die New York Times, was die Sozialdemokraten da bezahlen für ihren Teil an einer Regierung der Rechten. Aber sie bleibt sich treu, unsere biedere Tante, und gibt die Schuld auch den unzufriedenen Studenten. Hätten die sich still verhalten nach dem Attentat auf einen ihrer Führer, das Wahlvolk wäre nicht übergelaufen zu jenen, die Neue Gewalt und Strenge versprechen. Ein frohes
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