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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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als Belohnung dazu, verleidete sie uns seine Hundert Gedichte, die im selben Jahr 1951 auf den Markt kamen; die durften wir als auch madig verdächtigen.
    Wer ein Exemplar von Bertolt Brechts Hundert Gedichte, wie immer antiquarisch, wenn möglich mit dem Schutzumschlag, abzugeben gewillt ist, wird um einen Preisvorschlag gebeten an Mrs. Gesine Cresspahl, wohnhaft … c/o Státní Banka Československá, Praha 1.
    Mit dem Denunzieren der kosmopolitischen Volksfeinde hatte Bettina ihre Mühe. Von Rainer Maria Rilke wußte sie, er sei ein volksfremder Lyriker gewesen; Stefan George nannte sie einen Säulenheiligen. Aber was anfangen mit Jean-Paul Sartre? Die Schülerin Cresspahl schlug vor: dieser Mensch habe ein Buch namens L’Être et le Néant 1943 in Paris veröffentlicht, unter der nazideutschen Besatzung; eine Eins bekam sie. Ach, wie entbehrten wir Lockenvitz!
    Der war noch bei uns gewesen auf der Betriebsbesichtigung Barlach; fuhr mit nach Güstrow in einem Anzug wie die Schülerin Cresspahl in einem sonntäglichen Kostüm; indem ihr Vater das angewiesen hatte als eine Schicklichkeit für den Besuch bei einem Toten. Den hatten die Mecklenburger, Fiete Hildebrandt immer voran, so getriezt und gequält, er starb in Rostock 1938, begraben werden wollte er in Ratzeburg. Hier, vor den schwebenden Engel im güstrower Dom, vor die Figur des Zweiflers, die junge Frau im schlimmen Jahr 1937, traten wir ein zweites Mal, wenn Bettina durch war mit ihrem ausdeutenden Sums; um sie schweigend ansehen zu können. (Lise Wollenberg brachte den Versuch fertig, den Namen der »Gefesselten Hexe« der ehemaligen Freundin Cresspahl anzuhängen; wegen einer zweifelhaften Ähnlichkeit en face; Lise wurde bei Gelegenheit nun angesehen, gerade von Jungen, als sei sie von Sinnen.) Mit einer Sammlung von Abbildungen des »Fries der Lauschenden« zog Gesine Cresspahl um nach Hessen, ins Rheinland, nach Berlin, an den Riverside Drive von New York City.
    Den Ausflug hatten wir im September unternommen, im Dezember 1951 begann eine Ausstellung von Werken Barlachs in der Deutschen Akademie der Künste in Berlin NW 7, im Januar danach begann in Gneez eine Lehrerin für Deutsch und Gegenwartskunde zu lernen aus der Zeitung der Einheitspartei
    Und in welchen Fällen bilden wir den Genitiv »des neuen Deutschland«?
    Warum sprechen wir von einer Veröffentlichung »des ›Neuen Deutschlands‹«?
    was Bettinchen uns falsch berichtet hatte vier Monate zuvor. Die S. E. D. hatte ihren Sachbearbeiter für Kunst entsandt in die Akademie, einen Girnus, wohlbewandert in den volksfeindlichen Praktiken des Formalismus, der wollte dem Verstorbenen wenigstens zugute halten, daß die Nazis ihn behandelt hatten als ihrer Art fremd. Aber Barlach habe auf verlorenem Posten gestanden, ein im Grundzug rückwärts gewandter Künstler sei er gewesen. Unberührt vom Hauch der russischen Revolution von 1906. Bekleidete eine Welt der »Barfüßler« mit einem Glorienschein. Was hingegen hat Stalin in seinem Werk »Anarchismus oder Sozialismus« über diese Welt der »Barfüßler« gesagt? Er hat erwidert: Richtig ist, daß … Barlachs Orientierung auf eine verfaulende Gesellschaftsschicht hat ihm dem Zugang zu dem großen progressiven Strom des deutschen Volkes verschlossen. Von ihm sich isoliert. Das das ganze Geheimnis seiner selbstgewählten Vereinsamung.
    Pflichtgemäß verfaßten wir einen Aufsatz in Deutsch über das ganze Geheimnis, peinlich vergleichend zwischen den Äußerungen eines N. Orlow in der Zeitung der Besatzungsmacht
    Tägliche Rundschau! Neueste Ausgabe!
    Klägliche Rundschau; alles Angabe.
    und gewissen Auffassungen des zum Formalisten beförderten Ernst Barlach über die Bindung der plastischen Gedankenwelt »an die solidesten Begriffe des Materials, des Steines, des Metalls, des Holzes, fester Stoffe«. Wir logen wie gedruckt; wir arbeiteten für das Abitur.
    Seit dem Besuch in Barlachs Haus am Inselsee von Güstrow hatten die Schülerinnen Gantlik und Cresspahl eine Verabredung mit einander, eine Heimlichkeit. Beide waren beiseite getreten von der kunstkritischen Unterweisung durch die Fachkraft Selbich, fanden einander auf dem Kamm des Heidberges, wo ein Abhang sich öffnet, güstrower Kindern wohlbekannt als Schlittenbahn, auch dem Auge freien Weg öffnend über die Insel im See und das hinter dem Wasser sanft ansteigende Land, besetzt mit sparsamen Kulissen aus Bäumen und Dächern, leuchtend, da die Sonne gerade düstere Regenwolken hat

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