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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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verlassen, die Gepäckkontrolle an der Grenze fand privat anmutende Fotografien von Heinrich Himmler und jenem General der S. S., der das warschauer Ghetto hat schleifen lassen und die Bewohner in den Tod verschleppen; zwei Jahre Zuchthaus. Diesem Lehrer schützten wir eine Fügsamkeit vor bis zum Abitur.
    Die Fachkraft für Deutsch/Gegenwartskunde hätten wir angehen dürfen mit Lustigkeit; wir hüteten uns, in der Regel. Denn in der Neunten von 1952 gab es ein Mädchen, das hieß Kress, zur Hälfte wie die Schülerin Cresspahl. Auf die Frage, wer denn wohl der Genosse Stalin sei, gab dies Kind die Vermutung an, er sei der Präsident der Sowjetunion. – Setzen! Fünf! schrie Bettinchen, und in gleichem Atemzug: deine ganze Familie ist mir verdächtig! Da sie die Schülerin Kress zum ersten Mal sah und unbekannt blieb mit deren Familie, wußte eine in der Zwölf A Zwei, auf wen Bettinchen in der Tat einen Piek empfand.
    Ernsthafter Miene sagten wir ihr in Deutsch auf aus dem Gedicht »Die Erziehung der Hirse«, das der Schriftsteller Bertolt Brecht im Jahr zuvor veröffentlicht hatte:
    20
    Josef Stalin sprach von Hirse
    Zu Mitschurins Schülern, sprach von Dung und Dürrewind.
    Und des Sowjetvolkes großer Ernteleiter
    Nannt die Hirse ein verwildert Kind.
    21
    Nicht die Hirse war die Angeklagte
    Als die launische Steppentochter ward verhört.
    In Lyssenkos Treibhaus, fern in Moskau, sagte
    Aus sie, was ihr hilft und was sie stört.
    In Gedanken womöglich bei einem anders bezeichneten Hause, in dem der Schüler Lockenvitz, auch in einer Ferne, verhört wurde über was ihn stört, erläuterte Anita der Frau Selbich die poetischen Ziele dieser Zeilen, nämlich die naturwissenschaftliche Grundlage für die marxistische Auffassung von gesellschaftlicher Entwicklung, die Prägung des Menschen durch sein soziales Milieu sowie auch die Vererbung der so erworbenen Tugenden (samt Unterschied zu den Milieu-Theorien von Marx’ Zeitgenossen; unter strikter Vermeidung des Terminus Soziologie, damals noch geächtet als Ausdruck imperialistischer Afterwissenschaft).
    Überdies war »Die Erziehung der Hirse« verziert mit einer Vertonung, das ließ sich singen mit Längen auf dem jeweils letzten a:
    Tschaganak Bersijew, der Nomaaade
    Sohn der freien Wüsteneien im Land Kasakstaaan –
    was sollte Bettinchen da erkennen als einen etwas kindlichen Übermut im Rahmen des Lehrplans?
    Vom selben Autor wurde bei Frau Selbich studiert das Werk »Herrnburger Bericht«, eine poetische Erinnerung an den Empfang, der den westdeutschen Besuchern des Deutschlandtreffens von 1950 am Grenzübergang Herrnburg bereitet wurde von ihrer Schupo. Das Innenministerium von Schleswig-Holstein hatte verordnet, die Jugendlichen seien nach ihren persönlichen Daten samt Arbeitsplatz zu registrieren und ärztlich zu untersuchen, weil sie auf Stroh übernachtet hatten; die Rückkehrer wehrten sich mit Steinwürfen und Handgemenge, biwakierten anderthalb Nächte auf freiem Feld, bis sie nachgaben und ihre Ausweise hinhielten für den Stempel »Erledigt« oder »In Ordnung«: Daraus war bei dem Dichter Brecht geworden, sie hätten die Fahne der F. D. J. auf das Dach des lübecker Hauptbahnhofs »gepflanzt« und gesiegt, mit einem Befund über zwei Parteivorsitzende in der Bundesrepublik:
    Schuhmacher, Schuhmacher, dein Schuh ist zu klein,
    In den kommt ja Deutschland gar nicht hinein.
    Adenauer, Adenauer, zeig deine Hand,
    Um dreißig Silberlinge verkaufst du unser Land.
    Das wurde aufgeführt zu den III . Weltjugendfestspielen der F. D. J. in Berlin, und die englischen Mädchen mit dem sozialistischen Gewissen um unseren Hg. Knick in kurzen Hosen mochten es gewiß »awful« finden, was er ihnen übersetzte:
    Deutsche wurden von Deutschen gefangen
    Weil sie von Deutschland nach Deutschland gegangen
    … Schlagbaum und Schanzen.
    Hat das denn Zweck?
    Seht doch, wir tanzen
    Drüber hinweg.
    Wir waren albern genug, eine Inszenierung des Chorwerkes auch vorzuschlagen für die Fritz Reuter-Oberschule in Gneez (weil Herrnburg doch Nachbarschaft sei), zur Begeisterung von Bettina S. (über ihre pädagogischen Erfolge). Da legte Julie Westphal sich quer, der schwante etwas von unserer Verwunderung über einen Dichter, der sich empörte über westdeutsche Polizeikontrolle, weil er von der ostdeutschen meistens verschont wurde. Aber das Lehrziel erreichte die Schule. Indem sie uns nur die Brotarbeit Brechts vorführte, mit einem Nationalpreis (hunderttausend Mark)

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