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Jahrestage  4. Aus dem Leben von  Gesine Cresspahl

Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johsohn
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verdrängen können; welch Anblick mir möge gegenwärtig sein in der Stunde meines
    Es ist uns schnuppe, ob dir das zu deftig beladen ist, Genosse Schriftsteller! Du schreibst das hin! wir können auch heute noch aufhören mit deinem Buch. Dir sollte erfindlich sein, wie wir uns etwas vorgenommen haben für den Tod.
    Sterbens. Wir vertrauten einander etwas an über die Unentbehrlichkeit der Landschaft, in der Kinder aufwachsen und das Leben erlernen. Wir sagten eine der anderen, wie wir einander gefielen. Für den Rest des Schuljahres galten wir weiterhin als zwei, da bleibt die eine der anderen fremd; freund waren wir.
    Fast hätte Anita sich ums Abitur gebracht. Mitglied der Freien Deutschen Jugend war sie, nun sollte sie sich bekennen zum Beschluß des IV . F. D. J.-Parlaments vom 29. Mai 1952, für alle Mitglieder sei der Dienst in der Kasernierten Volkspolizei eine ehrenhafte Verpflichtung. Sie, die vor zwei Jahren noch beschworen hatte, sie werde sogar eine Arbeit im Telegrafenamt für Kriegszwecke verweigern, Anita war auserwählt zu marschieren wie die Mädchen der F. D. J. in Leipzig mit umgehängtem, die Jungen mit geschultertem Gewehr. Auch für Anita war eine Zukunft bereit gehalten, da durfte sie das Scharfschützen-Abzeichen der F. D. J. erwerben mit drei Schuß einundzwanzig Ringe für die Stufe Eins. Anita saß in der Klassengruppenversammlung mit gesenktem Kopf, hielt die roten Stütze im Nacken still, schwieg beharrlich. Wer weiß, ob sie noch zuhörte, als Gabriel Manfras sachte zu drohen begann mit einem Vergleich zwischen schulischen Leistungen und dem politischen Bewußtsein, das nun einmal mit auf die Reise muß beim Erstürmen der Festung Wissenschaft.
    Die Schülerin Cresspahl, Vorsitzende der Beratung, sagte in aufgebrachtem Ton: Ohrfeigen könnte sie sich. Hier reden wir über den Stockholmer Appell und eine Wehrpflicht und haben keine Augen für eine Anita, die ist krank. Dir ist doch übel, Anita? Du geh nach Hause. Abstimmung über die Unpäßlichkeit der Schülerin Gantlik. Dafür. Dagegen. Enthaltungen: Keine.
    So konnte die Schulgruppe Fritz Reuter aus Gneez an den Zentralrat der F. D. J. in Berlin ein einmütiges Einverständnis mit dem Waffenbeschluß telegrafieren, ein einstimmiges, wie es für schick galt. So verzog Anita nach Westberlin, sobald ihr die Urkunde über schulische Leistungen ausgehändigt war.
    Die Deutsche Reichsbahn nahm keine Koffer an zum Verschicken nach Bahnhöfen in Ostberlin; es sollte die Bürger hindern an der Flucht durch die Stadt. Anita gab einen Koffer auf an eine Station südlich von Teltow.
    Für die Reise steckte sie sich an: ihr Großes Sportabzeichen, ihr Kleines Sportabzeichen, das Abzeichen der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, das Abzeichen der F. D. J., das Abzeichen »Für Gutes Wissen« in Silber und das Mitgliedsabzeichen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, das sie einer Lehrerin für Gegenwartskunde zu entwenden gewandt genug gewesen war; litt unter den abweisenden, abschätzigen Blicken der anderen Fahrgäste, obendrein da sie von sich verlangte, einem jedem Uniformierten »Freundschaft« zuzurufen. Am zweiten Tag in Westberlin verließ sie das »Autohotel«, in dem sie durch einen Herrn Cresspahl empfohlen war, fuhr mit ihren Orden und Ehrenzeichen an der Brust über die Stadtgrenze, ihr Gepäck abzuholen. Das Gepäck war ausgeblieben. Sie machte einen Aufstand, wie er ihrem Parteiabzeichen anstand (»Der Parteilehrgang beginnt morgen, und ich steh hier ohne ein Handtuch!«), und erreichte, daß ihr der Koffer gegen die Vorschrift an den Ostbahnhof geschickt wurde (»Das werden Sie ja sehen ob Sie das machen, sehen werden Sie das ja!«); versuchte umzusteigen in die Stadtbahn Richtung Westen. Auf der Treppe zum Bahnsteig für Züge nach Spandau sah sie einen Tisch quer gestellt, daran Soldaten der Roten Armee. Flott, kameradschaftlich lief sie auf die Russen zu. Die waren eher erleichtert über die Abwechslung und flirteten mit dieser deutschen Verbündeten; wachsam und fürsorglich unterbrachen sie das Gespräch mit dem Ausruf: Laufen Sie bloß, Genossin, da kommt Ihr Zug. Jenseits der Grenze fiel sie auf mit ihrem Blech; hob mehrmals die linke Hand in Schulterhöhe, kratzte sich ein bißchen durch den Mantel, nahm in der hohlen Hand ein Ehrenzeichen nach dem anderen ab und ließ es in die Manteltasche fallen.
    Ob es sonst Schummelei gab beim Abitur? Gewiß; da kündet eine Sage von

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