Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
päd. Medizin schmunzelnd – weil der Lehrer stets in ›Mählspich‹ (Vorhemd und Kragen) ging, während der Bürger u. Handwerker solche ›Kreditspitzen‹ nur bei wichtigen Gängen in die Stadt umband – hingenommen u. im Vorübergehen ohne Anmerkung weitergegeben: ›Hest all hürt, Heinrich, Fritz A. hatt hüt morgen wedder n’Norsvull kraegen?‹ Wie kam nun der 10jährige vom Land in die Stadt? Von der Benutzung eines Fahrrades, damals noch Veloziped, plattd. Vilitzipeh genannt u. auch nur bei trockenem Wetter weiß ich nur in 1 Fall. Von Gutsjungen gingen mit mir zusammen nur der Sohn eines Kutschers u. ein Statthalterssohn, der die 5 km von seinem Gut zu Fuß zurücklegte. Bewohner von Ortschaften an den Seen (Petersdorf, Göhren, Nossentin) kamen (sonntags) meistens per Kahn zur Stadt. Forts. folgt. 20. 9. 63. Kl.«
Bloß weil ich wissen wollte, wie mein Vater mochte aufgewachsen sein. Aber worüber klagt Kliefoth: manchmal verwendet er eine ganze Woche auf die Gedichte von Robert Burns, und es kommt vor, daß er eines dann doch vergessen hat.
Dem schicken wir, über Anita, die Zigarren und den Tabak, wie sie ihm zustehen nach seinem Bedürfnis und Verdienst (so wie Brecht für den Dichter Oscar Wilde täglich eine frische Rose hätte besorgen wollen in Ostdeutschland); weswegen seine Briefe regelmäßig beginnen: Mahnend erhobenen Zeigefingers ob der Verwöhnung eines unnützen alten Mannes …
Seine Briefe unterzeichnet er, als wär’s eine Zensur, mit Lehrerkürzel.
Er beginnt sie mit den Worten: Liebe, verehrte Frau und Freundin Cresspahl.
Hätten wir’s doch verdient.
Das dritte Abitur, das soll gelten.
15. August, 1968 Donnerstag
Es mag ein Abfertiger auf dem Flugplatz J. F. K. N. PODGORNI heißen, oder doch ein solches Namensschild tragen müssen auf der uniformierten Brust, so daß er gewöhnt sei an befremdliche Begebenheiten, und arbeitet seit sechs Jahren für ein und die selbe Luftfahrtgesellschaft, an diesem Morgen blickt er zweifelnd auf zwei Damen namens Cresspahl, die wünschen nach California zu reisen mit keinem Gepäck als dem, das sie vielleicht mitführen in ihren Manteltaschen, darunter womöglich eine Waffe zum Schießen; am liebsten würde er die beiden abtasten. Da haben Sie mit Zitronen gehandelt, Mr. Podgorni, und auf Wiedersehen, mein Herr.
Was wollen wir in San Francisco auf einen Tag? Wir wünschen über die Bucht des Goldenen Tores einzufliegen. Marie soll das Große Rad sehen, das an seinen Kabeln die Straßenbahnen über die Berge der Stadt zieht. Die spanischen Hauskästen auf den Hügeln, leuchtend vor Weiße in dem bräunlich gebrannten Bewuchs der Erde. Vielleicht begegnen wir noch einmal am Hauptpostamt dem Bettler, der vor sechs Jahren für einen Vierteldollar sich bedankte mit dem Bescheid: You are a real lady, that’s for sure. Wir benötigen einen Fensterplatz an der Fischerswerft. Und warum dürfen wir das? weil Marie eine Rückkehr nach New York City gegen neun Uhr abends erwartet. Weil wir uns von neuem vorbereiten müssen auf ein Fliegen über lange Strecken. Und warum möchten wir es? weil in New York fremde Stimmen in die Telefonleitung kommen, italienische wie amerikanische, und fragen nach einem Professor Erichson. Weil da zur beliebigen Stunde ein Telegramm geliefert werden kann aus Helsinki mit der Nachricht, es sei da jemand im Sprechen behindert. Bitte, würden die beiden Damen mit dem Anfangsbuchstaben C als erste die Kabine betreten. Wir begrüßen die Schwestern C. an Bord unserer 707 auf dem Fluge nach S. F.
– Zur Eingewöhnung in den Abschied: vermutet die jüngere der Reisenden C., nachdem sie im Steigflug ihren Grundbesitz auf Erden vermessen hat, die Insel Manhattan und die orangenen Doppelstockboote im Hafen. – Nie ginge ich weg für immer von wo ich zu Hause bin!
– Das sagt jemand leicht, der hat zu Hause höhere Anstalten für höhere Bildung die Menge, und eine Columbia-Universität um die Ecke.
– Gesine, würdest du mir raten zum Studieren?
– Wenn du lernen möchtest, eine Sache anzusehen auf alle ihre Ecken und Kanten, und wie sie mit anderen zusammenhängt, oder auch nur einen Gedanken, damit du es gleichzeitig und auswendig verknoten und sortieren kannst in deinem Kopf. Wenn du dein Gedächtnis erziehen willst, bis es die Gewalt an sich nimmt über was du denkst und erinnerst und vergessen wünschtest. Wenn dir gelegen ist, eine Empfindlichkeit gegen Schmerz zu vermehren. Wenn du arbeiten magst mit
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