James Bond 02 - Leben und sterben lassen (German Edition)
sehr früh, sehr früh, sehr früh.
Wir richten uns an
DICH
Und
DU
wirst verstehen
.
Bond legte sich aufs Bett und dachte nach.
Dann faltete er das Papier zusammen und steckte es in sein Notizbuch.
Er lag auf dem Rücken, starrte ins Nichts und wartete auf den Tagesanbruch.
DIE EVERGLADES
Es war etwa fünf Uhr morgens, als sie sich in Jacksonville aus dem Zug schlichen.
Es war immer noch dunkel, und die leeren Bahnsteige des großen Umsteigebahnhofs in Florida waren nur spärlich beleuchtet. Der Eingang zur U-Bahn lag bloß ein paar Meter von Wagen 245 entfernt, und in dem stillen Zug regte sich nichts, als sie die Stufen hinunterhuschten. Bond hatte den Zugbegleiter angewiesen, die Tür ihres Abteils verschlossen zu halten und die Jalousien unten zu lassen, nachdem sie weg waren. Er hielt es für eine realistische Chance, dass sie nicht vermisst werden würden, bis der Zug Saint Petersburg erreichte.
Sie kamen aus der U-Bahn in die Bahnhofshalle. Bond überzeugte sich davon, dass der nächste Expresszug nach Saint Petersburg der Silver Meteor sein würde, der Schwesterzug des Phantom. Er sollte um neun Uhr abfahren, und er buchte zwei Plätze für sie. Dann nahm er Solitaires Arm, und sie spazierten aus dem Bahnhof auf die warme, dunkle Straße hinaus.
Sie hatten die Wahl zwischen zwei oder drei Restaurants, die die ganze Nacht hindurch geöffnet hatten, und sie gingen durch die Tür desjenigen, dessen Neonreklame am hellsten strahlte. Es war eines der üblichen schmierigen Diners – zwei müde Kellnerinnen hinter einer Theke voller Zigaretten und Süßigkeiten und Taschenbücher und Comics. Es gab eine große Kaffeemaschine und eine Reihe Gaskochfelder. Eine Tür mit der Aufschrift T OILETTE verbarg ihre schrecklichen Geheimnisse gleich neben einer Tür mit der Aufschrift P RIVAT , die vermutlich zum Hintereingang führte. Ein paar Männer in Overalls, die an einem der ein Dutzend schmutzigen, verkrusteten Tische saßen, schauten kurz auf, als sie hereinkamen, und setzten dann ihre gemurmelte Unterhaltung fort. Ablösemannschaften für die Dieselmaschinen, vermutete Bond.
Rechts vom Eingang gab es vier enge Nischen, und Bond und Solitaire ließen sich in einer davon nieder. Sie starrten ausdruckslos auf die fleckige Speisekarte.
Nach einer Weile kam eine der Kellnerinnen herübergeschlurft, lehnte sich gegen die Trennwand und ließ ihren Blick über Solitaires Kleidung wandern.
»Zweimal Orangensaft, Kaffee und Rührei«, sagte Bond knapp.
»Okay«, murmelte das Mädchen. Ihre Schuhe kratzten träge über den Boden, während sie davonschlenderte.
»Das Rührei wird mit Milch zubereitet sein«, sagte Bond. »Aber gekochte Eier kann man in Amerika erst recht nicht essen. Sie sehen ohne Schale so ekelhaft aus und werden hier in einer Teetasse zusammengerührt. Weiß der Himmel, wo sie das herhaben. Vermutlich aus Deutschland. Und der amerikanische Kaffee ist der schlimmste der Welt, sogar noch schlimmer als der in England. Beim Orangensaft können sie nicht viel falsch machen, schätze ich. Immerhin sind wir jetzt in Florida.« Der Gedanke an ihre vierstündige Wartezeit in dieser ungewaschenen, widerlichen Atmosphäre deprimierte ihn plötzlich.
»In Amerika verdient heutzutage jeder leichtes Geld«, sagte Solitaire. »Das ist immer schlecht für den Kunden. Die wollen ihm nur ein paar schnelle Dollars abknöpfen und ihn dann wieder rauswerfen. Warte nur ab, bis wir die Küste erreichen. Zu dieser Jahreszeit ist Florida die größte Touristenfalle auf der Welt. An der Ostküste nehmen sie die Millionäre aus. Dort, wo wir hingehen, hauen sie nur den kleinen Mann übers Ohr. Das hat er natürlich verdient. Er geht schließlich dorthin, um zu sterben. Und sein Geld kann er nicht mit ins Jenseits nehmen.«
»Um Himmels willen«, entfuhr es Bond, »wo gehen wir da bloß hin?«
»In Saint Petersburg ist jeder fast tot«, erklärte Solitaire. »Es ist der große amerikanische Friedhof. Wenn der Bankangestellte oder der Postbeamte oder der Zugführer sein sechzigstes Lebensjahr erreicht, holt er sich seine Rente oder sein Ruhegeld ab und zieht nach Saint Petersburg, um noch ein paar Jahre lang die Sonne zu genießen, bevor er stirbt. Man nennt es auch ‚Die Sonnenscheinstadt‘. Das Wetter ist dort so gut, dass die lokale Abendzeitung, die
Independent
, an jedem Tag umsonst verteilt wird, an dem die Sonne bis zum Erscheinen der Zeitung nicht geschienen hat. Das passiert nur drei- oder viermal im Jahr
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