James, Henry
zärtlich-romantischen Laune zu fügen, und legte den Termin für den folgenden Nachmittag fest. Diana war ganz ruhig. Die Hände gefaltet und die Augen geschlossen, saß sie reglos da. Agatha ging im Zimmer umher und arrangierte die Blumen immer wieder neu.
Am nächsten Tag traf sie in einem der vorderen Räume auf Mr Longstaff: Er war vor der verabredeten Zeit gekommen. Mit diesem Einwand lehnte sie es ab, ihn vorzulassen; doch er erwiderte, er wisse, dass er zu früh gekommen sei, dies sei aber absichtlich geschehen: Er wolle die verbleibende Stunde mit seiner künftigen Braut verbringen. Also ging er hinein und setzte sich wieder an ihr Lager, und Agatha, die sie allein ließ, erfuhr nie, was sich zwischen ihnen abspielte. Nach Ablauf der Stunde traf der Geistliche ein und vollzog die Trauung; er erklärte sie zu Mann und Frau, während Agatha als Zeugin dabeistand. Mr Longstaff ließ all dies mit ernster, unergründlicher Miene über sich ergehen, und Agatha, die ihn beobachtete, sagte sich, man müsse ihm zumindest die Gerechtigkeit widerfahren lassen, zuzugeben, dass er peinlich genau allem nachkam, was die Ehre gebot. Als der
Geistliche gegangen war, fragte er Diana, wann er sie wieder besuchen dürfe.
« Nie wieder!», sagte Diana mit ihrem sonderbaren Lächeln. Und sie fügte hinzu:«Ich werde jetzt nicht mehr lange leben.»
Er küsste ihr Gesicht, doch sie zwang ihn zu gehen. Er warf Agatha einen flehenden Blick zu, als wolle er ihr etwas sagen, aber sie zog es vor, ihn nicht anzuhören. Danach wurde Diana rasch schwächer. Am nächsten Tag kam Reginald Longstaff wieder und beharrte darauf, mit Agatha zu sprechen.
« Warum sollte sie sterben?», fragte er.«Ich möchte, dass sie lebt.»
« Haben Sie ihr vergeben?», fragte Agatha.
« Sie hat mich gerettet!», rief er.
Diana willigte ein, ihn noch einmal zu sehen; zwei Ärzte kümmerten sich jetzt um sie, und auch diese hatten ihre Einwilligung gegeben. Er kniete neben Dianas Bett nieder und flehte sie an, am Leben zu bleiben. Doch sie schüttelte matt den Kopf.«Es wäre nicht richtig von mir», sagte sie.
Als er später noch einmal zurückkam, teilte Agatha ihm mit, dass Diana von ihnen gegangen sei. Verstört und mit Tränen in den Augen stand er da.
« Ich verstehe es nicht», sagte er.«Hat sie mich nun geliebt oder nicht?»
« Sie hat Sie geliebt», sagte Agatha,«mehr geliebt, als sie glaubte, dass Sie sie jetzt noch lieben könnten; und Sie freizugeben, als sie ihren Augenblick des Glücks erlebt hatte, schien ihr die zärtlichste Möglichkeit, es zu zeigen.»
DER WEG DER PFLICHT
Ich bin froh, dass ich neulich Abend in Doubleton zu Ihnen, neugierige – allzu neugierige – Landsmännin 1 , sagte, ich würde Ihnen die Geschichte (von Ambrose Tester) nicht erzählen, sondern sie für Sie niederschreiben, denn mir ist nun, da ich seit meiner Rückkehr in die Stadt darüber nachgedacht habe, klar geworden, dass man sie wirklich interessant gestalten kann. Es handelt sich wahrhaftig um eine Geschichte, mit einer stetigen Entwicklung, und um sie zu erzählen, ist es von Vorteil, dass ich von Anfang an um die Sache wusste und mehr oder weniger das Vertrauen aller Beteiligten genoss. Außerdem wird es mir die Zeit vertreiben, sie aufzuschreiben, und ich werde dies so sorgfältig und gewandt wie möglich tun. Während der ersten Wintertage ist in London nicht gerade schrecklich viel los, so dass ich reichlich Muße habe, und wenn draußen düstere Nebelschwaden ziehen, lodert drinnen ein fröhliches Feuer. Ich mag die Stille dieser Jahreszeit; wenn ich so, inmitten der Dezemberdunkelheit, in der vom Feuerschein
erhellten Kaminecke sitze, gehen mir alle möglichen Dinge durch den Kopf. Und fast immer ist es die Größe und Befremdlichkeit dieser Londoner Welt, die meine Gedanken am meisten beschäftigt. So lange ich auch schon hier lebe – bis zu meinem sechzehnten Hochzeitstag sind es nur noch zehn Tage –, sie hat noch immer etwas Neues und Aufregendes an sich. Es ist ein großes Plus, wie man hier sagt, wenn man es geschafft hat, empfindsam zu bleiben, wenn man sich seinen eigenen Standpunkt bewahrt hat. Das macht die Sache meiner Meinung nach unterhaltsamer, es lässt einen tausend Dinge sehen – nicht dass sie alle sehr erfreulich wären. Doch das Vergnügen des Beobachtens hängt nicht im Mindesten von der Schönheit dessen ab, was man beobachtet. Man sieht unzählige kleine Dramen; tatsächlich ist beinahe alles in Akte und Szenen
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