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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benvolio
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Schoß ein großes
Buch, in dem sie nie las, und blickte hinaus auf einen Springbrunnen in einem römischen Garten, der dort, umrahmt von einem halben Dutzend Nymphen aus farbigem Marmor, in einer von Unkraut überwucherten Laube plätscherte. Dann und wann erklärte sie ihrer Gefährtin gegenüber, dank dieser Lebensführung sei sie glücklicher als jemals zuvor – dank dieser Lebensführung und dank ihrer Besuche im Petersdom. In der prachtvollen Kirche verbrachte sie oft den ganzen Nachmittag. Stets folgte ihr ein Diener mit einem Hocker, den er vor einen der marmornen Wandpfeiler stellte, und Diana blieb dann lange Zeit dort sitzen, schaute in das luftige Rund der Kuppel hinauf und ließ ihren Blick durch das weite, von zahlreichen Besuchern bevölkerte Kirchenschiff schweifen. Sie musterte jeden, der an ihr vorbeiging; doch Agatha, die sich in ihrer Nähe aufhielt, hatte – warum, wusste sie kaum zu sagen – größere Hemmungen, Bemerkungen über die Leute um sie herum zu machen, als damals, da sie in Nizza am Meer gesessen hatten.
    Eines Tages ließ Agatha Diana auf ihrem Hocker zurück und streifte allein durch die Kirche. Das geistliche Leben Roms war noch nicht auf das heutige Maß geschrumpft, und es gab immer
einen Anlass, in der einen oder anderen Ecke des Petersdoms eine Andacht abzuhalten. Für Agatha bot sich reichlich Unterhaltung und sie blieb eine halbe Stunde fort. Als sie zurückkam, fand sie den Platz ihrer Gefährtin verwaist; sie setzte sich auf den leeren Hocker, um auf deren Rückkehr zu warten. Es verging einige Zeit, und schließlich machte sie sich auf die Suche nach ihr. Sie entdeckte sie nach einer Weile in der Nähe eines der Seitenaltäre, doch Diana war nicht allein. Ein Herr stand vor ihr, den sie offenbar gerade getroffen hatte. Sie wirkte sehr blass, und ihr Gesichtsausdruck veranlasste Agatha, den Fremden auf der Stelle in Augenschein zu nehmen. Da erst sah sie, dass es gar kein Fremder war; es war Reginald Longstaff! Auch er war anscheinend äußerst überrascht gewesen, doch gewann er seine Fassung bereits wieder. Er blieb noch eine Sekunde stehen, dann verbeugte er sich schweigend zu den beiden Damen hin und entfernte sich.
    Agatha glaubte zunächst, einen Geist gesehen zu haben, aber dieser Eindruck wurde sogleich durch den Umstand korrigiert, dass Mr Longstaff in diesem Fall als Geist weitaus weniger gespenstisch ausgesehen hätte als zu seinen Lebzeiten. Er wirkte kräftig, er hielt sich gerade,
und er hatte eine gesunde Farbe. Was Agatha in Dianas Zügen las, war nicht Überraschung; es war ein schwaches Leuchten, wofür sie nicht gleich eine Erklärung fand. Diana streckte die Hand aus und legte sie ihr auf den Arm, und die Berührung half Agatha zu erkennen, was ihr Gesicht ausdrückte. Agatha stellte fest, dass diese Erkenntnis sie eigentlich nicht überraschte; sie schien nichts anderes erwartet zu haben. Erneut sah sie ihre Freundin an: Diana war schön. Diana errötete und wurde noch schöner. Agatha führte sie zu ihrem Platz vor dem marmornen Wandpfeiler zurück.
    « Du hattest also recht», sagte Agatha, sowie sie dort angekommen waren.«Er ist doch wieder genesen!»
    Diana wollte sich nicht setzen; sie bedeutete ihrem Diener, den Hocker mitzunehmen, und ging langsam auf den Ausgang zu. Sie sagte nichts, ehe sie draußen auf dem großen Platz zwischen den Kolonnaden und Brunnen stand. Dann erst sprach sie.
    « Heute sieht es so aus, als hätte ich damals recht gehabt, aber ich hatte unrecht. Er ist genesen, weil ich ihn abgewiesen habe. Ich habe ihm eine Kränkung zugefügt, die ihn geheilt hat.»
    An jenem Abend fand, unter den römischen
Lampen im großen Empfangszimmer mit dem päpstlichen Wappen, eine bemerkenswerte Unterredung zwischen den beiden Freundinnen statt. Diana weinte und verbarg ihr Gesicht; doch ihre Tränen und ihre Scham waren unbegründet. Wie ich schon sagte, glaubte Agatha, all das Unausgesprochene längst erraten zu haben, und ihre Gefährtin brauchte ihr nicht zu erzählen, dass sie drei Wochen, nachdem sie ihn abgewiesen hatte, Reginald Longstaff bis zur Raserei liebte. Diana brauchte ihr nicht zu gestehen, dass sie in Gedanken stets sein Bild vor sich gesehen hatte, dass sie überzeugt gewesen war, er weile noch unter den Lebenden, und dass sie in der verzweifelten Hoffnung, ihm irgendwo zu begegnen, nach Europa zurückgekehrt war. In dieser Hoffnung war sie von Stadt zu Stadt gereist und hatte ihren Blick auf jeden gerichtet, der an

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