Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
gekniet und wäre in dieser Haltung umgekippt. Aber sie war nicht hier gestorben. Daran hatte Fabel keinen Zweifel. Allerdings wusste er nicht, ob ihre Gliedmaßen zufällig so angeordnet waren oder ob es sich um eine absichtliche Pose handelte, in der der Täter sie zurückgelassen hatte.
Fabel wurde durch Holger Brauner, den Chef des Spurensicherungsteams, aus seinen quälenden Gedanken gerissen. Brauner näherte sich über auf Ziegeln ruhende Holzbretter, die er als einzigen Zugang zum Fundort der Leiche hintereinander gelegt hatte. Fabel nickte ihm zur Begrüßung grimmig zu.
»Was haben wir, Holger?«, fragte er.
»Nicht viel«, erwiderte Brauner betrübt. »Der Sand ist trocken und fein, und der Wind verweht ihn immer wieder. Er bläst sämtliche Spuren weg. Ich glaube nicht, dass dies der Tatort ist. – Und du?«
Fabel schüttelte den Kopf. Brauner schaute mit bewölkter Miene auf die Leiche des Mädchens hinunter. Er hatte ebenfalls eine Tochter, und Fabel erkannte in der Düsterkeit des Mannes Spuren seines eigenen dumpfen Schmerzes.
Brauner atmete tief durch. »Wir machen eine vollständige forensische Untersuchung, bevor wir das Mädchen zur Autopsie an Möller weitergeben.«
Fabel sah schweigend zu, wie die Spezialisten des Spurensicherungsteams in ihrer weißen Kleidung die Szene absuchten. Wie altägyptische Balsamierer, die eine Mumie einhüllen, bedeckten die Männer jeden Quadratzentimeter des Körpers mit Tesastreifen, die jeweils nummeriert und fotografiert und dann auf eine Polyäthylenfolie geklebt wurden. Dann hoben zwei Angestellte der Pathologie den Körper des Mädchens behutsam hoch, legten ihn in einen Vinylsack und zogen den Reißverschluss zu. Darauf hievten sie den Sack auf eine Karre, die sie halb über den nachgebenden Sand schoben und halb trugen. Fabel wandte die Augen nicht von dem Leichensack ab, bis er aus dem Gesichtsfeld verschwand – ein undeutlich werdender Fleck vor den hellen Farben des Sandes, der Felsen und der Uniformen der Angestellten. Er drehte sich um und ließ den Blick über den gelblich-weißen Sand zum Blankeneser Leuchtturm, über die Elbe hinweg zum fernen, grünen Ufer des Alten Landes und zurück über die gepflegten, grünen Hänge von Blankenese mit seinen eleganten, teuren Villen schweifen.
Fabel hatte den Eindruck, nie ein elenderes Bild gesehen zu haben.
2.
Krankenhaus Mariahilf, Hamburg-Heimfeld, Mittwoch, den 17. März, 9.50 Uhr
Die Oberschwester beobachtete ihn vom Korridor her. Dabei verspürte sie eine bleierne Schwere im Herzen. Er saß, ohne etwas von der Beobachtung zu ahnen, nach vorn geneigt auf dem Stuhl am Bett, und seine Hand ruhte auf der grau-weißen, gefurchten Stirn der alten Frau. Gelegentlich fuhr seine Hand sanft und langsam durch das weiße Haar, und währenddessen murmelte er ihr leise etwas, das nur sie hören konnte, ins Ohr. Die Oberschwester merkte, dass eine ihrer Kolleginnen hinter sie getreten war. Auch die zweite Schwester lächelte voll bitterer Sympathie, während sie den nicht mehr jungen Sohn und seine alte Mutter betrachtete, die in ihr eigenes Universum versunken waren.
Mit einer schwachen Bewegung des Kinns deutete die Oberschwester auf die Szene. »Er lässt nie einen Tag aus.« Sie lächelte freudlos. »Von meinen wird sich keiner einen Dreck um mich kümmern, wenn ich in dem Alter bin, das kann ich dir sagen.«
Die andere Schwester verzog wissend das Gesicht. Die beiden Frauen standen einen Moment lang schweigend da und musterten das Bild. Beide waren in trübsinnige, erschreckende Gedanken über ihre eigene ferne Zukunft vertieft.
»Kann sie überhaupt hören, was er sagt?«, fragte die zweite Krankenschwester.
»Mit höchster Wahrscheinlichkeit. Der Schlaganfall hat sie zwar so gut wie gelähmt und der Sprache beraubt, aber soweit wir wissen, funktionieren ihre Sinne noch.«
»Mein Gott… lieber würde ich sterben. Stell dir vor, in deinem eigenen Körper eingesperrt zu sein.«
»Wenigstens hat sie ihn«, meinte die Oberschwester. »Erbringt ihr jeden Tag Bücher, liest ihr daraus vor und sitzt dann noch eine Stunde lang da, um ihr über das Haar zu streichen und leise mit ihr zu sprechen. Wenigstens hat sie das.«
Die andere Krankenschwester nickte und seufzte traurig.
Im Zimmer merkten weder die alte Frau noch ihr Sohn, dass fremde Augen auf sie gerichtet waren. Sie lag regungslos – unfähig, sich zu bewegen – auf dem Rücken, sodass sie ihrem Sohn, der nach vorn gebeugt auf dem Stuhl
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