Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Aussicht auf den Winterhuder Stadtpark schien ihr Leben und ihre Farbe verloren zu haben.
Auf der anderen Seite des Schreibtisches saßen zwei Personen: Maria und ein stämmiger, schroff wirkender Mann von Mitte fünfzig, auf dessen Kopf schwarz-graue Borsten schimmerten. Kriminaloberkommissar Werner Meyer arbeitete seit vielen Jahren mit Fabel zusammen, länger als jeder andere im Team. Der rangniedrigere, doch ältere Werner war nicht nur Fabels Kollege, sondern auch sein Freund und häufig sein Ratgeber.
Werner hatte den gleichen Dienstgrad wie Maria Klee, und die beiden bildeten Fabels unmittelbare Zuarbeiter im Team. Doch Werner war die Nummer eins, denn er besaß mehr praktische Erfahrung als Maria, die sich während eines Jurastudiums und dann später an der Polizeifachhochschule und an der Landespolizeischule hervorgetan hatte. Ungeachtet seines groben Äußeren und seines massigen Körpers zeichnete sich Werner durch methodische Gründlichkeit und Aufmerksamkeit für Details aus. Er befolgte stets die Vorschriften und hielt seinen Chef oft im Zaum, wenn dieser sich zu weit auf einem seiner »intuitiven« Pfade vorwagte. Er sah sich als Fabels Partner, und es hatte einige Zeit – und etliche dramatische Ereignisse – erfordert, bevor er sich an die Arbeit mit Maria gewöhnte.
Inzwischen waren die beiden jedoch ein erfolgreiches Gespann. Fabel hatte sie wegen ihrer Unterschiede zusammengebracht: weil sie verschiedenen Polizeigenerationen angehörten und weil sie Erfahrung mit Fachkenntnis, Theorie mit Praxis kombinierten. Doch was sie wirklich zu einem schlagkräftigen Team machte, war ihre Gemeinsamkeit: ein kompromissloser Einsatz für ihre Aufgaben als Mitglieder der Mordkommission.
Es handelte sich um das übliche Planungstreffen. Bei Mordfällen gibt es zwei Ermittlungsmöglichkeiten: die energische Jagd, wenn man eine Leiche kurz nach dem Tod gefunden hat oder wenn klare Beweise den Weg vorgeben; oder die Verfolgung einer kalten Spur, wenn sich der Mörder bereits zeitlich und geografisch von der Tat entfernt hat und der Polizei nur bruchstückhafte Hinweise hinterlässt, die sie mühselig zusammenfügen muss. Die Ermordung des Mädchens am Strand war ein Fall der zweiten Art: ohne erkennbare Spuren und Motive. Sie würden umfangreiche Nachforschungen anstellen müssen, bevor die Sache Formen annahm. Das Treffen am Nachmittag war deshalb typisch für derartige Vorbesprechungen. Sie sichteten die dürftigen Fakten und verabredeten weitere Sitzungen, um die kommenden Berichte der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin unter die Lupe zu nehmen.
Die Leiche war der Ausgangspunkt: kein Mensch mehr, sondern eine Ansammlung materieller Einzelheiten, die Aufschluss geben über Zeit, Art und Ort des Todes. Mögliche DNS -Daten und andere Spuren des Täters auf der Leiche würden den ersten Schritt für die Identifizierung des Mörders einleiten. Im Mittelpunkt der Besprechung standen die verschiedenen Ermittlungsaufgaben. Zunächst mussten sich fast alle mit der Feststellung der Identität des toten Mädchens beschäftigen. Fabel wollte ihre Identität unbedingt herausfinden, aber zugleich war dies auch der Moment, den er am meisten fürchtete, denn dadurch wurde die Leiche zu einer Person und die Fallnummer zu einem Namen.
Nach dem Treffen forderte Fabel Maria auf, noch in seinem Zimmer zu bleiben. Werner nickte seinem Vorgesetzten wissend zu, wodurch er die Peinlichkeit der Situation unterstrich. Maria Klee – sie trug eine teure schwarze Bluse und eine graue Hose, ihre Beine waren übereinander geschlagen und ihre langen Finger um ihr Knie verschränkt – saß ausdruckslos und etwas förmlich da und wartete darauf, dass Fabel das Wort ergriff. Wie immer drückte ihre Haltung Verschlossenheit und Beherrschung aus, und ihre blau-grauen Augen unter den fragend gewölbten Brauen blieben distanziert. Alles an ihr deutete auf Zuversicht, Selbstkontrolle und Autorität hin. Aber im Moment gab es etwas Unbehagliches zwischen Fabel und ihr.
Sie hatte ihre Arbeit einen Monat zuvor wieder aufgenommen, und dies war der erste große Fall seit ihrer Rückkehr. Deshalb wollte Fabel, dass das Ungesagte ausgesprochen wurde. Die Umstände hatten Fabel und Maria zu einer einzigartigen Intimität gezwungen, einer engeren Intimität, als hätten sie miteinander geschlafen. Neun Monate zuvor hatten sie mehrere Minuten gemeinsam unter einem Sternenhimmel auf einem einsamen Feld im Alten Land verbracht. Der Atem der
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