Jan Fabel 04 - Carneval
Fabel nicht in der Nähe, um sie zu retten. Maria fror. Sie überprüfte ihre Waffe erneut und schob sich zum Fenster hinüber.
Sie merkte, dass das Steingebäude wohl keine Scheune, sondern eine Art Werkstatt war. Das Fenster hatte eine recht neue Scheibe, doch das Glas war von Schmutz bedeckt, der an den Ecken besonders dicht zu sein schien. Sie spitzte die Ohren, um irgendein Geräusch von innen zu hören, aber der Wind war stärker geworden, und das Glas dämpfte jeden Laut. Maria hielt den Knauf ihrer Automatik mit beiden Händen fest, schob sich weiter vor und reckte den Hals, um durch das untere Ende des Fensters zu spähen. Dann riss sie den Kopf zurück und lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Wand.
Ihre Gedanken rasten, um die Informationen zu verarbeiten, die sie in einem Sekundenbruchteil erlangt hatte. Molokow war im Gebäude – mit wenigstens drei Komplizen. Kein Anzeichen von Witrenko, aber vielleicht war er nur ihrem Blickfeld entzogen. Sie bemühte sich, ihre Atmung unter Kontrolle zu halten und ihre Gedanken zu ordnen. Dies war der Zeitpunkt, um wieder wie eine Polizeibeamtin zu handeln. Fabel hatte seinen Untergebenen stets eingeschärft, dass es die erste Pflicht eines Polizisten sei, sich zwischen Unschuldige und Gefahr, zwischen Chaos und Ordnung zu stellen. Maria wusste, dass jemand sterben würde, wahrscheinlich auf entsetzliche Art, und das innerhalb der nächsten Minuten.
Bei ihrem raschen Blick durchs Fenster hatte sie jemanden bemerkt, der nicht hätte dort sein sollen. Ein Mann saß auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes, doch seine Hände, wahrscheinlich auf dem Rücken gefesselt, waren nicht zu sehen. Die anderen, darunter Molokow, umringten ihn. Zuerst würden sie ihn foltern. Und dann töten.
Maria zog das Funkgerät aus der Innentasche ihres dicken schwarzen Mantels. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Benutzung zu riskieren. Sie stellte die Lautstärke so niedrig, wie es bei dem sich verstärkenden Heulen des Windes möglich war.
»Olga … bitte melden, Olga …«
Schweigen.
»Olga … bitte melden.« Marias Stimme klang verzweifelt.
»Maria! … wo bist du denn bloß gewesen? Ich habe versucht, dich zu erreichen. Auch Taras’ Walkie-Talkie ist noch außer Betrieb.«
»Sie haben ihn, Olga.«
»Was?«
»Sie haben Taras. Ich glaube, sie werden ihn töten.«
»Mein Gott … Was sollen wir tun?«
»Wir sind der Situation nicht gewachsen, Olga. Ich muss wieder Polizistin werden und die Sache vorschriftsmäßig abwickeln. Ich möchte, dass du sofort die Kölner Polizei anrufst. Sag, dass du Kiewer Miliz-Offizierin bist und dass eine Hamburger Oberkommissarin dringend Hilfe an diesem Standort benötigt. Erkläre ihnen, dass wir Wassil Witrenko festgenagelt haben und dass auch das BKA-Sonderkommando hinzugezogen werden soll. Aber schärfe ihnen um Gottes willen ein, dass sie sich beeilen müssen.«
»In Ordnung … Ich kümmere mich sofort darum, Maria. Bist du in Sicherheit?«
»Vorläufig. Aber ich werde etwas unternehmen müssen, wenn die Polizei nicht hier ist, bevor sich die Scheißkerle Taras vornehmen. Mach schon.«
Maria stellte das Funkgerät aus und schob sich an der Mauer entlang, um durch das Fenster zu blicken. Molokow brüllte, beschimpfte Buslenko und gestikulierte wild. Hin und wieder schaute er zu einem Objekt oder einer Person hinter ihm hinüber.
Witrenko.
Maria duckte sich, um sich unter dem Sims zur anderen Seite des Fensters und der Wand vorzuarbeiten. Sie warf einen verstohlenen Blick um die Ecke. Eine Tür, zwei Schläger. Maschinenpistolen. Hier war ihr der Weg versperrt, was die Dinge komplizierter werden ließ, denn sie würde keinen direkten Zugang zu dem Zimmer haben, in dem Buslenko festgehalten wurde. Maria kehrte zur anderen Ecke zurück.
Sie musste unbedingt ins Haus. Tränen brannten in ihren Augen. Sie dachte an alles, was sie in den vergangenen drei Jahren durchgemacht hatte – an die Nacht auf dem Feld bei Cuxhaven, an Fabel, an Frank. Ihr war klar, warum sie weinte: weil sie trauerte. Um die Person, die sie früher gewesen war. Und um das Leben, das sie nun verlieren würde. Die Polizei würde zu spät kommen. Buslenko und sie würden beide tot sein, und Witrenko würde wahrscheinlich erneut in der Dunkelheit untertauchen. Aber sie hatte keine andere Wahl; sie musste einen Abschluss finden. Irgendwie würde sie in das Zimmer vordringen und die eine Kugel nutzen, die sie abfeuern konnte, bevor die anderen sie
Weitere Kostenlose Bücher