Jan Fabel 04 - Carneval
um. An der anderen Seite der Bar drängten sich ein paar Geschäftsleute. Eine Gruppe von sechs Männern, alle in den Zwanzigern, unterhielt sich und lachte mit lauter, jugendfrischer Energie. Ein Paar, das zwei Sofas weiter Platz genommen hatte, war so miteinander beschäftigt, dass es nicht einmal ein Feuer im Hotel bemerkt hätte.
»Keine Sorge«, sagte Fabel. »Wenn es voller wird, können wir raufgehen.«
Wagner ließ den Verschluss des Ordners aufschnappen.
»Dies ist wirklich deprimierend. Wir haben es mit den Kräften der Evolution zu tun. Witrenko hat sich geändert. Sich angepasst. Ohne Zweifel ist er die Hauptfigur im Menschenschmuggel von Ost nach West. Daneben kontrolliert er einen großen Teil der illegalen Prostitution in Deutschland. Aber er hat noch ein Spezialgebiet. Ein Nischengeschäft, könnte man sagen.«
»Welches?«
»Es gibt eine Menge Leute, die, na ja, besondere Bedürfnisse haben. Witrenkos Prostituierte müssen diese Bedürfnisse befriedigen. Ich glaube nicht, dass ich in die Einzelheiten gehen muss … es ist äußerst unangenehm. Und die meisten Prostituierten machen nicht freiwillig mit. Er verkauft Menschen wie Fleisch, Jan. Alles, was wir bisher herausgefunden haben, ist in dieser Akte zusammengefasst. Etliche Personen sind nicht sehr glücklich darüber, dass du Zugang zu unseren Informationen hast.«
»Andere Leute wissen Bescheid? Kennen sie meine Gründe?«
»Nein … Wenn ich Frau Klees Rolle erwähnt hätte, wäre bestimmt schon ein Haftbefehl gegen sie ausgestellt worden. Ich habe behauptet, dass ich dich in diese Ermittlung mit einbeziehen will, damit du die Gründung der geplanten Bundesmordkommission noch einmal ins Auge fasst.«
»Also hast du meine Entscheidung ebenfalls nicht erwähnt?«
»Nein … Dafür haben wir noch Zeit genug.«
Fabel blätterte die Akte durch. Sie war voll von Gräueln. Überall in Zentralasien und Europa hatte Witrenko zahllose Morde veranlasst, von relativ einfachen Tötungen bis hin zu Schlachtungen von spektakulärer Brutalität, die andere warnen sollten, seine Pläne nicht zu durchkreuzen. Ein detaillierter Bericht über Witrenkos Aktvitäten in Hamburg enthielt auch den Angriff auf Maria Klee. Außerdem waren die Einzelheiten des Massenmordes, den Maria in ihren Aufzeichnungen erwähnt hatte, hier ausgebreitet: Es ging um die dreißig illegalen Einwanderer, die man in einem Containerlastwagen an der ukrainisch-polnischen Grenze verbrannt hatte. Fabel las ferner, ein georgischer Bandenchef habe Witrenkos Angebot einer Partnerschaft mit den Worten ausgeschlagen, für ihn kämen nur seine drei Söhne, wenn sie älter seien, als Partner infrage. Daraufhin habe Witrenko dem Georgier am Vatertag drei Pakete mit den Köpfen von dessen Söhnen geschickt.
Ein hübsches ukrainisches Mädchen war gezwungen worden, als Edel-Callgirl zu arbeiten. Sie hatte versucht, sich Witrenkos Klauen zu entziehen, indem sie Kontakt zur Berliner Polizei aufnahm. Später fand man sie, an einen Stuhl gefesselt, vor einem Standspiegel, wo sie erstickt war. Die Mörder hatten ihr Schwefelsäure ins Gesicht geschüttet und dabei auch ihre Luftwege verätzt. Wahrscheinlich war sie nicht fähig gewesen, viel von ihrem Spiegelbild zu erkennen. Aber der Anblick reichte, dachte Fabel, um Witrenko zufriedenzustellen. In Israel war ein Anschlag, der Witrenkos Handschrift trug, auf einen ukrainisch-jüdischen Verbrecherboss verübt worden. Fabel schüttelte den Kopf vor Bewunderung, denn Maria hatte all diese Fälle in ihren Notizen erwähnt. Ihr war es ohne die Hilfsmittel des BKA gelungen, Witrenkos Handschrift in entlegenen und scheinbar unzusammenhängenden Ereignissen zu erkennen.
Auch die Tatsache, dass Witrenko seinen eigenen Vater ermordet hatte und dass Fabel Zeuge des Verbrechens war, wurde in den Unterlagen erwähnt.
»Ich nehme an, dass dich kaum etwas in dieser Akte überrascht«, sagte Wagner.
»Wir müssen Maria aus Köln hinausschaffen«, erklärte Fabel, ohne von der Akte aufzublicken. »Wenn Witrenko Wind davon bekommt, dass sie einen persönlichen Kreuzzug gegen ihn führt, wird er sie zu seiner Belustigung umbringen.«
»Ich stimme dir zu, Jan, aber unsere Priorität muss es sein, Witrenko zu fassen. Maria Klee hat sich durch eigene Schuld in diese Situation gebracht.«
»Wofür sie nicht ganz allein verantwortlich ist …« Fabel blätterte weiter und hatte Fotos von noch mehr Opfern vor sich. Er hob die Augen, um sich zu überzeugen, dass
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