Jan Fabel 04 - Carneval
niederschossen. Sie würde versuchen, Witrenko zu treffen, der im Gebäude sein musste. Vermutlich würde sie sein Gesicht nicht erkennen, das bestimmt völlig verändert war. Aber sie bezweifelte nicht, dass sie seine Augen und seine Ausstrahlung in einem Sekundenbruchteil identifizieren konnte.
Maria stützte sich an die Wand. Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht. Dann wartete sie einen Moment lang in der vergeblichen Hoffnung, sich nähernde Streifenwagen zu erspähen. Der Wind, der durch die kahlen Bäume und die Hecke rauschte, war seltsam beruhigend. Maria zog ihre Dienstwaffe aus der Tasche und hatte nun in beiden Händen eine Pistole. Sie lachte leise. Es war wie im Film, doch immerhin verdoppelte sich ihre Chance, Witrenko vor ihrem eigenen Tod zu erschießen.
Sie trat einen Schritt von der Mauer weg und ging gefasst um die Ecke. Wieder schrillten Alarmglocken in ihrem Innern. Es war zu leicht. Diese Seite der Werkstatt schien unbewacht zu sein. Durch ein Fenster konnte sie in ein anderes Zimmer schauen; diesmal war die Scheibe zerbrochen, und der Raum lag im Dunkeln. Sie betrachtete die Leuchtziffern ihrer Uhr. Sieben Minuten, seit sie mit Olga gesprochen hatte. Es würde vielleicht weitere fünf oder zehn Minuten dauern, bis die Polizei erschien. Maria zögerte erneut. Natürlich würde man auf Blaulicht und Sirenen verzichten. Sie spähte über das Feld zurück zur Straße. Keine Bewegung. Dann wandte sie sich wieder dem zertrümmerten Fenster zu.
Das Zimmer war leer, abgesehen von zwei zerbrochenen Stühlen und einem an die Wand gerückten Schreibtisch. Behutsam schob sie die Hand an den Scherben vorbei und öffnete den Riegel. Das Fenster protestierte knarrend gegen die Störung seiner jahrzehntelangen Ruhe, als Maria es langsam aufzwängte. Sie brauchte ein paar Minuten, um es so weit zu öffnen, dass sie sich hindurchquetschen konnte. Wieder horchte sie in die Nacht hinaus nach den Geräuschen näher kommender Retter. Nichts. Wo zum Teufel waren sie? Maria versuchte, nicht an den unvermeidlichen Lärm zu denken, während sie durchs Fenster stieg und den Fuß auf den von Geröll übersäten Boden setzte. Trotz der kalten Winterluft bildeten sich Schweißperlen auf ihrer Oberlippe. Sie blieb regungslos stehen.
Jenseits der Tür rührte sich etwas. Sie richtete beide Pistolen auf die schmuddelige Holztäfelung, aber die Tür öffnete sich nicht, und die Geräusche verklangen. Maria schätzte, dass die Werkstatt nur zwei Räume, beide von einem Flur abgehend, enthielt. Sie schlich zur Tür, die nicht genau in ihren Rahmen passte, sodass Maria den Korridor durch eine Lücke ausspähen konnte. Sie hörte leise Stimmen aus dem Nebenzimmer. Keine Schreie.
Maria beschloss, rasch zu handeln, und riss die Tür auf – bereit, auf jeden zu schießen, den sie hier vorfand. Der Hausflur war leer, doch aus dem knapp über zwei Meter entfernten Zimmer strömte immer noch Licht. Gewiss hatte man sie gehört, aber die Stimmen in dem Raum redeten weiter. Sie schob sich durch den Korridor.
Die Haustür lag nun direkt vor ihr, doch sie konnte die beiden dort postierten Ganoven nicht sehen. Anscheinend waren sie draußen. Auf alle Fälle musste Maria damit rechnen, dass die Männer, sobald Schüsse ertönten, hereinstürmten. Zwei hoch qualifizierte ehemalige Speznas-Angehörige, bewaffnet mit Maschinenpistolen, gegen eine bulimische, neurotische Polizistin mit zwei Handfeuerwaffen. Kein Problem, dachte sie. Ihre Angst hatte sie mit dem ersten Schritt zur offenen Zimmertür verlassen. Anscheinend konnte die Gewissheit des Todes eine solche Wirkung haben, denn sie spürte eine neue Kraft und Entschlossenheit in sich.
Maria trat rasch durch die Tür und schwenkte ihre Pistolen, um sie auf alle Anwesenden richten zu können.
10.
Ulrich Wagner verspätete sich um zehn Minuten. Fabel hatte neben der Bar Stellung bezogen, um das Hotelfoyer überblicken und Wagner bei dessen Ankunft begrüßen zu können.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte er und steuerte den BKA-Vertreter in die Bar.
»Warum nicht?«, erwiderte Wagner.
Sie nahmen ihre Drinks und setzten sich auf ein Sofa am Fenster mit Aussicht über die Turinerstraße, die Bahngleise und die Domtürme. »Sollten wir uns damit nicht besser in deinem Zimmer beschäftigen?« Wagner zog einen dicken Ordner aus seiner Aktentasche. »Darin gibt’s ein paar unerfreuliche Fotos. Übrigens musst du dich vorher ins Verzeichnis eintragen.«
Fabel sah sich im Foyer
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