Jan Fabel 04 - Carneval
sie ihn ungläubig.
»Was ist denn?«, fragte er abwehrend. Die Schöpfkelle war noch ausgestreckt. »Ich habe nur versucht, ihm zu helfen, damit er sich besser fühlt …«
»Nicht jeder ist so unsensibel gegenüber menschlichem Leid wie Sie, Herr Scholz.«
»Sagen Sie Benni zu mir.«
»In Ordnung. Sie können Frau Dr. Schilling zu mir sagen.« Sie nickte hinter Kris her. »Sollten Sie nicht nachsehen, ob alles in Ordnung ist?«
»Er kommt schon darüber hinweg. Wenn nicht, ist er am falschen Arbeitsplatz. Wie auch immer, ich bin nicht gleichgültig gegenüber menschlichem Leid. Ich habe Mitgefühl mit dem Opfer. Ein schrecklicher Tod. Aber ich kann nicht jedes Mal mein Mittagessen ausspucken, wenn ich eine Leiche vor mir habe. Wie gesagt, das sind keine Menschen mehr, sondern nur noch Fleisch. Niemand weiß das besser als Sie.«
»Sie haben recht«, sagte Simone Schilling. »Eine Leiche ist keine Person für mich, sondern eine Fundgrube für Beweismaterial. Aber es hat Jahre gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Nun betrachte ich sie professionell, nicht emotional. Aber Sie … Sie sind einfach ein unsensibler Mistkerl.«
Scholz grinste sie amüsiert an. Es gefiel ihm, wie sie ihn beschimpfte. »Ich bin nicht unsensibel. Bloß praktisch.«
Der junge Beamte kehrte zurück.
»Alles in Ordnung, Kris?«, fragte Scholz. Er drehte sich zu Simone Schilling um. »Sehen Sie? Sensibel.«
»Ich fühle mich gut«, erwiderte Kris, doch er war immer noch blass.
»Schön, dann erzählt mir, was hier vorgegangen ist. Habt ihr noch mehr aus dem Somalier oder den Restaurantbesitzern herausholen können?«
»Nicht viel«, antwortete Tansu. »Der Somalier war zunächst sehr hilfsbereit, aber plötzlich hat er den Mund gehalten. Ich glaube, die beiden Ukrainer haben ihn wissen lassen, wer die Mörder ihrer Meinung nach waren. Wahrscheinlich ukrainische Mafia. Jedenfalls sind die drei von der Ausländerbehörde in Gewahrsam genommen worden. Auch die Eigentümer sind nicht sehr gesprächig. Die Ausländerbehörde widmet sich ihnen ebenfalls.«
»Die Antwort lautet also: Nichts?«, fragte Scholz ungeduldig.
»Nicht ganz«, widersprach Kris. »Bevor der Somalier schweigsam wurde, hat er ausgesagt, dass eine Frau hier war, um mit Dmitri zu sprechen. Groß und dünn, gut gekleidet. Er hatte den Eindruck, dass sie von der Ausländerbehörde oder von der Polizei kam.«
9.
Maria erwachte um sechs Uhr und lauschte den Geräuschen der Stadt, die sich an dem dunklen Wintermorgen langsam regte. Seit ihrem Fressgelage am Sonntagabend hatte sie nichts mehr zu sich genommen, und ihr schmerzte der Magen, der zuerst vollgestopft und dann brutal entleert worden war. Zwar fröstelte sie immer noch, doch irgendetwas hatte sich geändert.
Sie versetzte sich an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Maria wusste nicht, warum sie sich so verhielt. Große Teile ihrer jüngeren Vergangenheit waren dem Versuch gewidmet, die damaligen Ereignisse hinter sich zu lassen. Trotzdem lag sie regelmäßig nachts im Bett und stellte sich vor, wieder in jener Nacht auf dem Feld bei Cuxhaven zu sein.
Bis zu jenem Zeitpunkt hatte sie den Eindruck gehabt, ein Gespenst zu verfolgen. Doch es war dem Team gelungen, Witrenko und zwei seiner wichtigsten Handlanger in die Enge zu treiben. Witrenko entkam, indem er durch ein Fenster hinaus in die Nacht sprang. Maria und zwei Cuxhavener Polizeibeamte standen an verschiedenen Positionen Wache. Witrenko hatte wahrscheinlich nicht einmal innegehalten, als er dem ersten Beamten die Kehle aufschlitzte. Maria erinnerte sich, wie Fabel Warnungen in sein Funkgerät schrie. Sie sah nichts, hörte nichts. Aber Wassil Witrenko war schon als Kind zu einem Soldaten von größter Schläue ausgebildet worden. Hinter ihr raschelte etwas, und sie wirbelte herum, konnte jedoch nichts entdecken. Plötzlich tauchte Witrenko weniger als einen Meter vor ihr aus dem langen Gras auf. Sie riss ihre Pistole herum, aber er ergriff ihr Gelenk mit unverschämter Leichtigkeit und hielt es dann mit zermalmender Kraft fest. In jenem Moment verspürte sie einen Schlag auf den Solarplexus. Aber als sie hinunterschaute, merkte sie, dass es kein Schlag gewesen war. Knapp unter dem Brustkasten ragte der Griff eines Zeremonienmessers mit breiter Klinge aus ihrem Körper. Sie hatte Witrenkos Gesicht vor sich. Seine kalten, glänzenden, zu hellen grünen Augen. Er lächelte. Dann war er verschwunden.
Die Nacht war wolkenlos, und sie schaute
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