Jan Fabel 04 - Carneval
weiteres Geschäft aufsuchte, musste sie ein paarmal anhalten, um die Telefonbuchseite aus der Tasche zu ziehen und die Adresse auf dem Straßenplan von Köln zu finden. Es war Mittag, und obwohl ihr Bauch sich nach dem ungewohnten Frühstück wie geschwollen anfühlte, nahm sie in dem Restaurant auf der anderen Straßenseite einen kleinen Imbiss – Suppe mit Brot – zu sich. Nun kam sie sich völlig aufgebläht vor, als hätte sich ihr Magen gedehnt, aber sie unterdrückte den Drang, sich zu übergeben. Es war alles ein Teil ihres Planes.
Ein offensichtlich schwuler Mann mittleren Alters zeigte ihr eine Auswahl an Perücken. Maria behauptete, sie sei Schauspielerin und stets auf der Suche nach Möglichkeiten, ihr Äußeres zu variieren. Der Verkäufer schien Zweifel an ihrer Geschichte zu haben, doch sie erklärte, dass sie häufig ihre eigenen Perücken und Kostüme verwenden müsse. Es handele sich um eine spezifische Form der Schauspielerei für den DVD-Markt. Der Verkäufer nickte wissend und führte ihr eine Reihe von Stilen – kurz und lang, brünett, blond und rothaarig – vor. Maria entschied sich für fünf Perücken, was den Verkäufer sehr erfreute. Allerdings zeigte sie ihr Entsetzen über den Preis.
»Wir könnten eine zurücklegen …«, schlug der Mann zögernd vor.
»Nein, schon in Ordnung. Ich nehme sie alle.«
Maria ging auf dem Rückweg zum Hotel noch in zwei Bekleidungsgeschäfte und traf mit Einkaufstüten beladen in ihrem Zimmer ein. Sie schloss die Vorhänge, zog sich nackt aus und stellte sich bei voller Beleuchtung vor den Spiegel. Diesen Moment hatte sie gefürchtet, denn sie wusste, dass sie sich als grässlich aufgedunsen und dick empfinden würde, nachdem sie zum ersten Mal seit Monaten zwei Mahlzeiten an einem Tag gegessen hatte. Aber sie irrte sich. Maria war seit Langem daran gewöhnt, ihren nackten Körper voller Abscheu zu betrachten, weil sie ihre Figur als aufgedunsen und fett empfand. Diesmal jedoch schien sich ihre Perspektive durch die Entscheidung, jemand anders zu werden, verändert zu haben, und sie schaute sich den Körper einer anderen an. Wie viel Schaden sie sich zugefügt hatte! Maria war immer wohlgeformt, doch schlank gewesen. Aber nach Monaten der Heißhungerattacken und des anschließenden Erbrechens sowie nach Wochen weitgehenden Hungerns wirkte ihr Körper ausgezehrt. Ihre Rippen zeichneten sich unter der Haut ab, und ihre Oberschenkel schienen schmaler als ihre Knie zu sein. Ihre Oberarme waren stockdünn, und die Messernarbe unterhalb ihrer geschrumpften Brüste hob sich rosa von ihrer blassen, leblosen Haut ab. Ihr Gesicht unter dem neuen Schopf aus fast schwarzem, kurz geschnittenem Haar war hager und eingefallen. Was hatte sie sich nur angetan?
Sie schob den Gedanken beiseite und beschloss, sich nicht länger mit ihrem Körper zu identifizieren. Er würde nun schlicht das Ausgangsmaterial bilden, mit dessen Hilfe sie ein Dutzend unterschiedliche Marias erschaffen konnte. Der Einfall war ihr beim Aufwachen gekommen, als sie sich gewünscht hatte, Anna für die Überwachung heranziehen zu können. Genau das war nun möglich geworden, indem sie sich in Anna und jede beliebige andere Frau verwandelte. Während Maria die Idee in eine Strategie und einen Plan umwandelte, erfüllte sie endlich wieder ein Gefühl der Entschlossenheit und des Zielbewusstseins. Sie würde nicht nur versuchen, durch einfache, formlose Kleidung unsichtbar zu werden, sondern sie würde, wann immer nötig, eine andere Frau sein.
10.
Oliver trank seinen Kaffee und musterte die nackte, weiß gekachelte Wand ihm gegenüber. Aber er sah nichts. Seine Gedanken richteten sich auf die Ereignisse in dem Hotelzimmer. Seither waren fünf Tage vergangen, und er hatte nichts gehört. Er wusste, dass die Polizei recht lange benötigen würde, um ihn, wenn überhaupt, aufzuspüren. Er hatte alles äußerst sorgfältig geplant und sämtliche Spuren beseitigt. Sie hatte entsetzlich rumgezickt und fürchterlich viel Lärm gemacht. Dabei hatte sie gewusst, was er wollte, dass er spezielle Bedürfnisse hatte – warum also das Geschrei? Warum fingen die blöden Nutten immer an zu kreischen, obwohl ihnen klar war, was er mit ihnen tun musste? Oliver war nichts anderes übrig geblieben, als sie zum Schweigen zu bringen, bevor jemand im Hotel sie hörte.
Er trank einen weiteren Schluck Kaffee. Nein, er brauchte sich keine Sorgen zu machen, wenn er nie wieder über die Hostessenagentur buchte und
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