Jan Fabel 04 - Carneval
die schlüpfrige Masse aus Lunge, Bronchien und Aorta – alle blieben miteinander verbunden – vorsichtig heraus. Mit größter Sorgfalt löste er die sieben Meter des Dünn- und Dickdarms vom Mesenterium und entfernte sie aus dem Körper. Oliver hatte aus Erfahrung gelernt, dass ein Riss zum Aussickern des Inhalts führen konnte. Dessen Gestank erinnerte an eine Mischung aus Erbrochenem und Exkrementen, nur war er zehnmal so stark. Dann schnitt Oliver Leber, Galle, Milz und Magen aus dem Oberbauch, wiederum ohne die Verbindung zwischen ihnen zu trennen. Nein, dachte er, es ergibt keinen Sinn. Wenn die Polizei ihn verdächtigte, hätte man ihn sofort zwangsbeurlaubt.
Während der Assistent mit der Waage hantierte, entfernte Oliver eine weitere zusammenhängende Organgruppe, diesmal Nieren, Harnblase und Bauchaorta. Die Körperhöhle des Opfers war jetzt leer, sodass sein grauweißes Rückgrat freilag. Oliver widmete sich dem Kopf, nahm das Gehirn heraus und inspizierte das Innere des Schädels. Nach der Exenteration bereitete Oliver Sektionen für die Histologie und die spätere Mikroskopuntersuchung vor und ließ die Proben in Formaldehyd fallen. Es war nicht notwendig, das gesamte Hirn in Formaldehyd zu konservieren und es in zwei Wochen für eine detaillierte Analyse zu zerschneiden, denn er hatte keine nennenswerten Schädeltraumata gefunden. Deshalb würde er lediglich Scheiben des Gehirns, zusammen mit den Körperflüssigkeiten, in die Histologie schicken lassen. Er brauchte eine weitere Stunde, um die Haut um die Schnittwunden für eine genaue Überprüfung abzulösen.
Nachdem Oliver die Autopsie beendet hatte, reinigte er sich und fuhr zu seiner Wohnung. Die Stadt, feucht in der Nacht glänzend, glitt vorbei. Er lächelte vor sich hin. Das Flattern in seiner Magengrube war verschwunden. Eine Stimme tief in seinem Innern schien ihm zu versichern: Nein, sie werden dich nicht fassen. Du bist zu klug für sie. Und bald ist Karneval.
5.
Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis der Mann, den Maria im Gespräch mit Viktor beobachtet hatte, die Gaststätte verließ. Er war kleiner und weniger breit als Viktor, doch sein Körperbau und seine Bewegungen ließen sie an den »Soldaten« denken, den Slawko erwähnt hatte. Maria hatte sich durch die Auseinandersetzung mit dem teuflischen Witrenko gründlich mit Speznas-Angehörigen in der Sowjetzeit und danach beschäftigt. Zu den Auswahlkriterien gehörte, dass diese Männer nie besonders groß oder muskulös sein durften, denn sie mussten überall – sei es in der Wüste, im Dschungel oder in der Stadt – schnell und unauffällig abtauchen können. Aber etwas an der Art, wie sie sich bewegten, deutete auf ihre Identität hin. Maria bezweifelte keinen Moment lang, dass sie einen ehemaligen Speznas-Angehörigen vor sich hatte. Außerdem schien sie es mit einem höheren Mitglied von Witrenkos Organisation zu tun zu haben.
Sie hatte Angst, denn es war hochgefährlich, sich auf die Spur dieses Mannes zu setzen. Im Unterschied zu Viktor war er dazu ausgebildet, Verfolger zu entdecken. Sie würde nur eine einzige Chance haben.
Der Ukrainer stieg in einen Mittelklasse-BMW und fuhr davon. Maria wartete, bis mehrere Autos zwischen ihnen waren, bevor sie in den Verkehr einscherte. Sie musste das Risiko eingehen, seine Spur zu verlieren, da er, wenn sie zu dicht hinter ihm blieb, misstrauisch werden würde. Sie verließen Nippes. Maria lenkte immer wieder mit einer Hand, während sie einen Blick auf den Kölner Stadtplan warf. Anscheinend bewegten sie sich die Kempener Straße entlang nach Neuehrenfeld in Richtung Autobahn. Plötzlich prasselte starker Regen herunter, und Maria musste ihre Scheibenwischer auf die höchste Stufe stellen. Ihr schmerzte der Kopf nach dem Adrenalinstoß beim Testen ihres neuen Aussehens in der Kneipe sowie durch die Konzentration in der Dunkelheit und im Regen auf die fernen Schlusslichter des BMW.
Sie bogen nach Norden in die Autobahn ein. Maria entspannte sich ein wenig. Nun konnte sie sich noch weiter zurückfallen lassen und brauchte nur vor den Ausfahrten für den Fall aufzuholen, dass er dort abbog. Schließlich verschwand die Silhouette Kölns an den Seiten der Fahrbahn, und sie schienen nach Düsseldorf unterwegs zu sein. Jäh verließ der BMW die Autobahn, ohne dass der Fahrer dies angezeigt hatte. Maria spürte ein Engegefühl in der Brust. Was bedeutete es, dass er, ohne zu blinken, abgebogen war? Sie schaltete den rechten Blinker
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