Jan Fabel 05 - Walküre
einfach, dass wir bei der Menge der Ereignisse etwas übersehen könnten.«
Die Frau, die im Vernehmungszimmer auf ihn wartete, sah keineswegs wie eine Mörderin aus, weder wie eine Berufs- noch wie eine Serienmörderin. Die Spurensicherer hatten ihr sämtliche Kleidungsstücke zur Untersuchung abgenommen, und sie trug nun einen formlosen weißen Einwegoverall. Sie war schlank und, wie Fabel nicht übersehen konnte, sehr attraktiv. Nun blickte sie mit leerer Gleichgültigkeit zu ihm auf, als gingen sie die Ereignisse - und seine Anwesenheit - nichts an.
Fabel erkannte sie von dem Foto, das man ihm aus der Mecklenburger Klinik geschickt hatte.
Fabel nickte dem uniformierten Beamten zu, der die Gefangene beaufsichtigte, nahm Ute Paulus gegenüber Platz, legte seine Papiere auf den Metalltisch und belehrte sie über ihre Rechte. Karin Vestergaard war mit Werner und Anna im Nachbarraum zurückgeblieben, wo sie die Vernehmung auf dem Monitor beobachten konnten.
»Ich möchte, dass Sie etwas verstehen, Frau Paulus«, sagte er. »Ich werde Sie später noch einmal zusammen mit einem anderen Beamten vernehmen. Außerdem werden eine Psychologin und ein Rechtsbeistand für Sie dabei sein. Dann können wir detaillierter auf die Dinge eingehen. Vorläufig möchte ich nur, dass Sie Ihren Namen bestätigen.«
»Ich bin Ute Paulus. Sie haben mich Margarethe genannt, aber ich bin nicht Margarethe Paulus. Margarethe ist meine Schwester.«
»Aber das kann einfach nicht stimmen. Es gibt keine Ute Paulus. Sie haben keine Schwester. Das ist belegt.«
Sie lachte kalt. »Belege werden dauernd gefälscht. Im Osten hat man persönliche Unterlagen immer wieder abgeändert. Ich bin nicht Margarethe, sondern Ute.«
»Wer ist das?«, fragte Fabel und schob ihr eine Kopie des Krankenhausfotos hin.
»Das ist Margarethe.«
»Das sind Sie. Es hat keinen Zweck, diesen Sachverhalt zu leugnen. Wir haben Ihre Fingerabdrücke, und sie stimmen mit denen der Patientin hier überein ...« Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Bild. »Margarethe Paulus, achtunddreißig Jahre alt, geboren in Zarrentin, in Nordwestmecklenburg. Sie haben keine Schwester und keinen Bruder, und Ihre beiden Elternteile sind tot. Das sind Sie. Und Sie wurden im Mai 1994 in die geschlossene Psychiatrie in Mecklenburg eingewiesen.«
Sie schwieg. Fabel atmete tief durch.
»Warum haben Sie Robert Gerdes so zugerichtet?«
»Er hieß nicht Gerdes.« Er hörte keinen Zorn aus ihrer Stimme heraus. Nichts ließ sich an ihrer Stimme oder an ihren Augen ablesen. »Er hieß Georg Drescher und war Major in der Stasi.«
»Warum haben Sie das mit ihm angestellt?«
»Ich dachte, darüber würden wir erst später sprechen«, erwiderte sie und legte die Hände auf die Metalloberfläche. Ihre Finger waren lang und schlank. Fabel bemerkte, wie sauber ihre Fingernägel waren, und dann fiel ihm ein, dass Brauners Techniker sämtliches Spurenmaterial abgekratzt haben muss-ten. Er konnte sich kaum vorstellen, dass diese Finger die Gräuel, auf die er in ihrer Wohnung gestoßen war, begangen haben konnten.
»Ich möchte zurück«, sagte sie.
»Zurück wohin? In die Wohnung?«
»Ins Krankenhaus.«
»Wie können Sie ins Krankenhaus zurückkehren, wenn Sie dort keine Patientin sind?«, fragte Fabel. Erneut zeigte er auf das Foto. »Das ist die Patientin. Margarethe. Aber Sie behaupten, nicht Margarethe zu sein.«
»Dort treffe ich meine Schwester. Dort besuche ich sie und rede mit ihr. Nun kann ich sie dauernd besuchen.«
Fabel seufzte und raffte seine Papiere zusammen. »Ich glaube wirklich, wir sollten noch etwas warten.«
»Ich möchte jetzt zurück«, wiederholte sie ohne jeden Nachdruck in ihrer Stimme. »Ins Krankenhaus.«
»Leider wird daraus vorerst nichts. Sie werden eine Zeit lang bei uns bleiben müssen.« Fabel stand auf.
»Ich möchte zurück. Ins Krankenhaus.« Auch Margarethe stand auf.
Fabel hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. »Sie müssen sitzen bleiben, Frau Paulus. Warten Sie einen Moment. Der Beamte bringt Sie dann zurück in Ihre Zelle.«
Margarethes Hand griff nach Fabels Gelenk, und er war verblüfft über die Kraft in ihren schlanken Fingern. Er machte eine Bewegung, um sich zu befreien, doch sie traf ihn mit dem Ballen ihrer freien Hand an die Stirn. Benommen hörte er, wie der Schutzpolizist herbeieilte. Margarethe packte Fabel an den Haaren und rammte sein Gesicht gegen den Metalltisch. Dann stützte sie sich von
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