Jan Fabel 05 - Walküre
er das Wohngebäude verließen und auf seinen BMW zugingen, fiel Fabel auf, dass die Straße bei Tage - sogar im Winterlicht - ganz anders aussah. Er atmete die kalte Luft ein paarmal tief ein. Im Laufe der Jahre hatte Fabel immer wieder erfahren müssen, dass er nach dem Besuch eines Mordtatorts noch wochenlang von einem bestimmten Aspekt oder Bild verfolgt wurde. Diesmal war es, wann immer er die Augen schloss, der leblose Blick von Dreschers Leiche.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte Karin Vestergaard.
»Doch ... Alles bestens.« Fabel seufzte. »Nur ein weiterer Tag in der Fleischfabrik.«
Im Präsidium holte Fabel Kaffee für sich und seinen Gast, bevor sie in seinem Büro Platz nahmen.
»Wir sollten vor der Vernehmung von Ute Cranz eine Pause machen. Die Sache wird sich lange hinziehen.«
Nach einem Klopfen kam Werner herein. Etwas an seinem Gesicht verriet Fabel, dass die Pause bereits vorbei war.
»Es ist ein heilloses Durcheinander, Jan«, sagte Werner. Er machte sich nicht die Mühe, Karin Vestergaards wegen Englisch zu sprechen.
»Was denn?«
»Die Frau, die wir verhaftet haben, hat das Apartment unter dem Namen Ute Cranz gemietet. Aber sie behauptet, in Wirklichkeit Ute Paulus zu heißen und die Schwester von Margarethe Paulus zu sein ...«
»Stopp.« Fabels Müdigkeit verflüchtigte sich. »Die Frau, die aus der geschlossenen Psychiatrie in Mecklenburg entkommen ist?«
»Genau.«
»Ute Paulus hat also das Gewerbe ihrer Schwester übernommen, männliche Opfer zu kastrieren? Wenn Margarethe Hilfe von außen gehabt hat, würde das jedenfalls erklären, wieso sie unsichtbar bleiben konnte.«
»Tja, und hier wird's sehr kompliziert.« Werner lächelte schief und rieb sich die Stoppeln auf seinem Schädel. »Ich habe Kontakt mit der staatlichen Klinik in Mecklenburg aufgenommen und mit dem Chefpsychiater gesprochen, der für Margarethe Paulus zuständig ist. Er heißt Dr. Köpke. Laut Köpke gibt es keine Ute Paulus. Keine Schwester. Nur Margarethe.«
Werner legte den Ausdruck eines Aktenfotos auf Fabels Schreibtisch. »Das ist Margarethe Paulus ein Jahr vor ihrer Flucht. Ich habe mir die Frau in der Zelle angesehen. Die Haarfarbe ist anders, aber sonst muss sie, wenn sie die Schwester ist, ein Zwilling sein.«
»Verflucht.« Fabel fasste für Karin Vestergaard Werners Ausführungen auf Englisch zusammen. »Was hat Köpke sonst noch gesagt?«, erkundigte er sich dann bei Werner.
»Zwei Dinge. Erstens, er will unbedingt mit dir reden. Außerdem interessiert ihn die Identität des Opfers und die Todesart. Angeblich hat er Informationen, die für uns unentbehrlich sind. Außerdem möchte er mit dem Gerichtspsychiater oder -psychologen sprechen, der die Vernehmung beobachtet — was er uns dringend empfiehlt.«
»Und das zweite?«
»Er empfiehlt uns dringend, dass wir beim Umgang mit Margarethe Paulus maximale Sicherheitsvorkehrungen treffen. Er sagt, sie sei wahrscheinlich das gefährlichste Individuum, dem er je begegnet ist.«
Auf dem Weg zum Vernehmungszimmer nahm Karin Vestergaard einen Anruf auf ihrem Handy entgegen. Nach einem kurzen Austausch auf Dänisch machte sie sich ein paar Notizen. Fabel wartete auf seinen Gast.
»Das war mein Büro in Kopenhagen«, erklärte sie, während die beiden auf dem Korridor weitergingen. »Die norwegische Kriminalpolizei hat sich intensiver mit dem Fall des ermordeten Journalisten Jorgen Halvorsen beschäftigt und ist auf eine seiner Kontaktpersonen hier in Hamburg gestoßen. Wir können darüber sprechen, wenn Sie die Frau vernommen haben. Glauben Sie, dass sie Jens ermordet hat?«
»Ich weiß es nicht. Es scheint verdammt oft zu passieren, dass Umstände scheinbar zufällig zusammentreffen. Sie wäre eindeutig jemand, den wir für all die Morde in Betracht ziehen müssten, wenn sie nicht unzweifelhaft in einer Anstalt eingesperrt gewesen wäre. Sie kann unmöglich der Engel oder die Walküre sein.«
»Aber sie war in Freiheit, als Jens getötet wurde«, wandte Karin Vestergaard ein.
»Stimmt. Dafür könnte sie infrage kommen. Ich werde ihr Alibi überprüfen lassen ... falls das möglich ist.« Fabel wandte sich zu ihr hin, und sie blieben stehen. »Hören Sie, Karin, dies ist nur eine erste Vernehmung, um ein paar Grundfragen klären zu können. Es wird nicht lange dauern. Danach sollten wir die ganze Sache durchsprechen. Es gibt noch zwei Todesfälle, die sich nicht klar als Morde einstufen lassen. Ich glaube
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