Jan Fabel 05 - Walküre
Walküren: Eine ist tot, die zweite wieder in der Nervenklinik, und die dritte tut alles, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«
»Stimmt ...« Werner gluckste boshaft. »Außerdem kommt sie bei dir vorbei, wenn sie mit jemandem plaudern will.«
Fabel warf ihm einen scharfen Blick zu, woraufhin Werner ein paar Papiere vom Schreibtisch nahm und das Büro verließ. Der Hauptkommissar griff zum Telefon und tippte eine Nummer ein.
»Guten Tag, Frau Meissner. Jan Fabel. Ich habe Ihre Einladung erhalten, der Sabinerinnen-Stiftung die Initiative der Polizei Hamburg zur Gewalt gegen Frauen zu erläutern. Ich würde mich freuen ...«
II.
Die letzte Besprechung des Tages hatte sich lange hingezogen. Ein Lieferservice hatte Essen gebracht, und schließlich war eine Flasche Champagner geöffnet worden, um das Geschäft zu besiegeln. Nach all der negativen Publicity hatte Gina Bransted zäh verhandeln und ein paar feste Zusicherungen abgeben müssen. Aber nun war das Unternehmen wieder auf Kurs.
Da die Besprechung so lange gedauert hatte, beschloss Bransted, in ihrem Penthouse über den Büros zu übernachten. Ohnehin gefiel es ihr hier, denn die riesigen Fenster blickten über den Hafen und zum Bauplatz der neuen Oper hinaus. Sie schenkte sich ein weiteres Glas ein und genoss den Champagner zusammen mit der Aussicht. Eines Tages würde ihr diese Stadt gehören. Genau wie Kopenhagen.
Etwas spiegelte sich in der Scheibe wider. Sie wirbelte herum.
»Was haben Sie hier zu suchen?« Bronsteds Stimme war eher verwirrt als zornig. »Wie sind Sie hereingekommen?«
»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte die blonde Frau, die mitten in Gina Bronsteds Wohnzimmer stand.
»Was zum Teufel soll das heißen?«, fragte Bronsted, diesmal mit deutlichem Zorn in der Stimme. »Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Würden Sie mir bitte verraten, was Sie hier tun? Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«
»Kennen Sie meinen Namen?«, erkundigte sich die Frau.
»Selbstverständlich kenne ich Ihren Namen. Sind Sie denn ...« Bronsted verstummte. Sie konzentrierte sich nun auf die Pistole, die die Frau aus den Falten ihres schwarzen Mantels hervorgezogen hatte.
»Mein Name ist nicht der, den Sie kennen. Mein wirklicher Name ist Liane Kayser. Ich bin eine Walküre. Sie wissen gut über die Walküren Bescheid, nicht wahr, Gina?«
»Ich ...« Bronsteds Miene drückte Begreifen und dann Furcht aus. »Hören Sie, ich kann Ihnen Arbeit...«
»Sie meinen, dass Sie mich benutzen können. So, wie Sie Margarethe und Anke benutzt haben? Das Komische ist, dass ich dachte, es sei mir egal. Dass ich nichts für irgendjemanden empfinden kann. Aber es ist mir nicht egal. Die beiden waren fast wie Schwestern für mich. Jetzt werde ich etwas für Sie tun, Gina. Ich weiß, wie gern Sie Schlagzeilen machen. Dabei werde ich Ihnen helfen. Morgen werden Sie die Nachricht Nummer eins sein. Das verspreche ich Ihnen.«
»Ich kann das Problem für Sie lösen ...« Bronsteds Augen glitten durch den Raum. Der Alarmknopf. Das Telefon. Beide ein Universum entfernt.
»Genau, Gina, Sie haben recht. Sie können das Problem für mich lösen.« Die blonde Frau drückte zweimal auf den Abzug, und das Knallen der Schüsse wurde durch den Schalldämpfer der Makarow PM Automatik abgeschwächt. Gina Bransted sackte zusammen. Sie atmete rasch und keuchend. Die Frau trat ein paar Schritte auf sie zu.
»Wissen Sie, was das Wort Walküre wirklich bedeutet? Es kommt vom altnordischen valkyrja: Wählerin der Erschlagenen.« Sie drückte noch zweimal ab. Kopfschüsse. »Adieu, Gina.«
III.
Es hatte sich seit ihrem letzten Besuch so sehr verändert. Sylvie Achtenhagen war zuletzt als junges Mädchen in Halberstadt gewesen. Damals, vor dem Fall der Mauer. Der Ort hatte die junge Sylvie nicht sehr beeindruckt, denn er unterschied sich kaum von jeder anderen DDR-Kleinstadt, die sie kannte. Ganz am Ende des Zweiten Weltkriegs - vier Wochen vor der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation - war Halberstadt durch Bomben zerstört worden. Viele argwöhnten, dass die Bombenangriffe ein letzter Akt der Rachsucht und Vergeltung gewesen seien.
Die Briten hatten die hübsche Kleinstadt mit moralischer Energie und rechtschaffenem Eifer so gut wie ausgelöscht und vor allem den mittelalterlichen Kern von Halberstadt fast dem Erdboden gleichgemacht. Danach hatte die kommunistische Regierung der DDR sie mit genauso großer moralischer Energie und
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