Jan Fabel 05 - Walküre
bleiben.«
»Das höre ich immer wieder«, sagte Fabel. »Aber ich bin mir nicht so sicher, Werner.«
Am Schauplatz fanden sie noch zwei Schutzpolizisten und eine einzelne Spurensichererin in einem weißen Overall vor, die ihre Arbeit fortsetzte. Fabel hielt seinen Dienstausweis hoch, und einer der Uniformierten hob das Absperrungsband.
»Möchten Sie, dass wir irgendeine Stelle nicht betreten?«, rief Fabel zu der Technikerin hinüber.
Sie stand auf, und Fabel erkannte sie: Es war Astrid Bremer, die Frank Gruber zwei Jahre zuvor als Stellvertreterin von Holger Brauner ersetzt hatte. Die Kapuze ihres Schutzanzugs bedeckte ihr Haar, und das Oval ihres Gesichts wurde durch das umgebende Gummiband zu einer hübschen, fast kindlichen Maske.
»Nee«, antwortete sie. »Nicht nötig. Wir haben die Untersuchung vor einer Stunde abgeschlossen.«
»Warum sind Sie dann noch hier?«, fragte Werner.
Astrid zuckte die Achseln. »Meine Mutter sagt immer, ich sei ein dickköpfiges Kind gewesen. Mir schien, dass wir etwas übersehen haben könnten. Es hat mir keine Ruhe gelassen.«
»Und haben Sie etwas übersehen?«, erkundigte sich Fabel.
»Die Mörderin wusste, was sie tat«, erwiderte Astrid, »aber es ist für jeden Menschen schwierig, keinerlei Spuren von sich zu hinterlassen. Vermutlich ist sie dort drüben neben dem Baum in den Schatten zurückgetreten. Wir haben zwar keinen vollständigen Fußabdruck, doch ihr Stiefelabsatz hat sich in die Erde am Fuß des Baumes gebohrt. Das könnte uns einen Hinweis auf ihr Gewicht liefern. Dadurch habe ich plötzlich über ihre Größe nachgedacht. Zwischen dem Fuß des Baumes und den ersten Zweigen ist nur ein Abstand von 142 Zentimetern. Wenn sie keine Zwergin war, muss sie sich geduckt haben, um sich zu verstecken, ohne sich in den Zweigen zu verheddern.« Astrid grinste und hielt einen Spurensicherungsbeutel aus Plastik hoch.
Der Beutel kam Fabel leer vor, bevor er auf die Straße hinaustrat und ihn in die Beleuchtung hielt.
»Ein Haar«, sagte Astrid. »Vielleicht gibt es keinen Zusammenhang zu dem Mord, aber das ist, nach dem Fundort zu schließen, sehr unwahrscheinlich. Unsere Mörderin dürfte eine Blondine sein. Und wir haben vermutlich ihre DNA.«
3.
Der Altonaer Balkon ist eine erhöhte Grünanlage dreißig Meter über der Elbe und von einer Allee umrandet, auf der zahlreiche Bänke stehen. Der Balkon bietet einen der schönsten Ausblicke auf Hamburg und verläuft an der Elbe entlang bis zur Köhlbrandbrücke, wodurch er zu einem beliebten Aufenthaltsort nicht nur für die Bewohner von Altona, sondern für alle Hamburger geworden ist.
Ein immer noch gut aussehender Mann von ungefähr sechzig Jahren, der seinen Mantelkragen wegen der Kälte hochgeschlagen hatte, saß auf einer Bank am Rand des mit Schnee bestäubten Balkons und beobachtete die fern vorbeiziehenden Schiffe und Schlepper sowie die Aktivitäten der Ladebagger und Kräne in den Containerdocks. Über ihm war der Himmel winterlich hellblau, und hinter ihm funkelte die niedrig stehende Sonne durch die kahlen Äste der Bäume. Es war ein friedlicher Moment, und ihm wurde klar, wie wenig Frieden er in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt hatte.
Eine Frau mit einem Hund spazierte vorbei, gefolgt von drei Teenagern auf Skateboards, die über den mit Steinsalz bestreuten Fußweg donnerten. Ihr Atem stieg dampfend in die kalte Luft. Dann wieder Frieden.
»Hallo, Onkel Georg.« Eine Frau in den Dreißigern, teuer gekleidet und mit geschmackvollem Make-up, setzte sich neben ihn und küsste ihn auf die Wange. Sie legte ihre Handtasche und ein Exemplar von Muliebritas auf ihren Schoß und stellte eine Plastiktüte auf die Bank neben sich.
»Weißt du, nicht alles war schlecht«, sagte er, als hätte sie von Anfang an neben ihm gesessen. »Daheim. Damals, meine ich.«
»Nein, Onkel Georg, da hast du wohl recht.«
»Ich habe an das geglaubt, was wir repräsentierten. Was wir taten. Manche Dinge waren damals besser. Die Menschen haben sich stärker umeinander gekümmert. Wir hatten ein Gemeinschaftsgefühl. Ein Gesellschaftsgefühl. Die grässlichen Dinge, die wir tun mussten, dienten dem Wohl des Volkes, der Welt.«
Sie legte ihre behandschuhten Finger auf seinen Arm. »Ich weiß. Was ist los, Onkel?«
»Manchmal ... ja, manchmal sehe ich mir unser heutiges Leben an, und mir scheint, dass unser Weg vielleicht richtiger war, als alle dachten. Nicht unser Glaube hat uns
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