Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Sie, dass Daniel Föttinger an der Hamburger Universität Philosophie studiert hat?«
»Nein, Herr Fabel.«
»Wirklich nicht? Ich dachte, dass Sie und er über solche Dinge gesprochen hätten. Schließlich befasst sich das Pharos-Projekt stark mit der Philosophie des Geistes, oder nicht?«
Wiegand schwieg, ohne seine kalten, verachtungsvollen Augen von Fabel abzuwenden.
»Er hat sich im Studium nicht ausgezeichnet«, fuhr Fabel fort. »Nach meinen Informationen hatte er eine Neigung, sich zu sehr auf einen bestimmten Aspekt der Philosophie zu fixieren. Fast zwanghaft. Anscheinend mangelte es ihm an geistiger Disziplin. Nicht genug Präzision. Seine Seminararbeiten galten als flüchtig und zu schlecht recherchiert. Zum Beispiel folgende: Geplant war eine allgemeine Untersuchung von Platos Theorie der Formen, doch was herauskam, war ein sehr abschweifendes Referat über die platonische Nachahmung.« Fabel blätterte weiter. »Wirklich interessant wird es, als er die Qualia erörtert. Ich bin kein Philosoph, aber die Qualia scheinen mir unsere Sinneserfahrungen der Welt zu sein, die Wahrnehmung unserer Umwelt.«
»Fällt auch Überdruss unter diese Beschreibung, Herr Fabel?«, fragte Wiegand matt. »Ich hoffe sehr, dass Sie irgendwann zur Sache kommen werden.«
»Nun, ich glaube, dass Daniel Föttingers Persönlichkeit durch diese Aufzeichnungen offenbar wird. Schließlich geht es in der Philosophie darum, welche Erkenntnisse sich aus den Welterfahrungen eines Individuums ableiten lassen. Föttinger war an einer sehr spezifischen Idee interessiert, die mit den Qualia zusammenhängt: dem Konzept des ›philosophischen Zombies‹. Es ist die in manchen Bereichen der Philosophie vertretene Vorstellung, dass nur eine Minderheit aller Menschen auf der Welt real seien. Einige Menschen – die meisten sogar – würden im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nicht existieren. Sie reagieren wie erwartet auf Stimuli, indem sie Gefühle wie Sorge, Schmerz, Zorn oder Liebe zum Ausdruck bringen, aber in Wahrheit fühlen sie diese Dinge nicht wirklich, weil sie keine reale Empfindung besitzen.«
»Soll heißen?«, fragte Wiegands Anwältin.
»Einfach nur, dass diese Aufzeichnungen erkennen lassen, wie besessen Daniel Föttinger von dem Konzept war. Inzwischen habe ich mit etlichen Leuten über Herrn Föttinger gesprochen und einen gewissen Einblick in seine Persönlichkeit gewonnen. Und ich muss sagen, dass es keine sehr erfreuliche Persönlichkeit ist. Meiner Meinung nach war er schon als Student von solchen Ideen besessen, weil sie recht gut zu seiner Welterfahrung passten.«
»Welcher denn?«, fragte Wiegand.
»Der Erfahrung, dass es im Grunde auf andere Menschen nicht ankam. Daniel Föttinger fehlte jegliches Mitgefühl. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass andere ein ähnliches Bewusstsein wie er hatten.« Fabel schloss die Akte. »Daniel Föttinger war unzweifelhaft ein Soziopath.«
»Und was hat das mit meinem Mandanten zu tun?«, erkundigte sich Harmsen.
»Darauf komme ich gleich. Soziopathie als Persönlichkeitsstörung ist viel häufiger, als man denken sollte. Eine leicht soziopathische Persönlichkeit kann in der Unternehmenswelt sogar ein Vorteil sein; der ›rücksichtslose Geschäftsmann‹ ist sehr häufig jemand, der sich äußerst egozentrisch verhält und die Gefühle anderer missachtet. Daniel Föttinger war mit Sicherheit ein solcher Geschäftsmann, wie anscheinend auch sein Vater vor ihm. Daniel muss Ihnen als idealer Kandidat für das Pharos-Projekt erschienen sein. Sie hatten schon seine vermögende Frau rekrutiert, und es war erforderlich, in einem nächsten Schritt Föttingers Firma mit dem Korn-Pharos-Konzern in Einklang zu bringen. Wahrscheinlich hatten sie geplant, ihn zunächst einer gründlichen Gehirnwäsche zu unterziehen, bevor Föttinger Environmental Technologies vom Korn-Konzern übernommen wurde.«
»Ich begreife immer noch nicht …«, begann Wiegands Anwältin.
»Ihre Gehirnwäsche-Methoden fingen an, bei Föttinger zu wirken, hauptsächlich weil das Konzept einer virtuellen, mit ichbewussten Programmen bevölkerten Welt zu seinen verdrehten Ideen passte. Aber er störte Sie auch, nicht wahr, Herr Wiegand? Wahrscheinlich wurde sein Verhalten zunehmend unberechenbar. Außerdem stießen Sie vielleicht auf Probleme wegen seines Umgangs mit den weiblichen Mitgliedern Ihrer kleinen Gruppe.« Fabel unterbrach sich. »Was also hat das mit Ihnen zu tun, Herr Wiegand? Ich
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