Jan Fabel 06 - Tiefenangst
heraus und steckte beide in die aufgesetzte Tasche seiner Feldjacke. Er hatte das Gefühl, die Waffe schon ein Dutzend Mal in der Hand gehalten zu haben, obwohl er noch nie eine Pistole angefasst hatte.
»Ich mache es«, versprach Niels.
10.
Horst van Heiden war ein Mann von mittlerer Größe, gedrungen und mit einem grüblerischen Gesicht, das von grauweißem Haar und einem ebensolchen Bart umrahmt war. Als Fabel van Heidens Büro betrat, hatte er den gleichen Eindruck wie immer, wenn er dem Kriminaldirektor begegnete: dass dieser seinen teuren Anzug wie eine Uniform trug. Tatsächlich hatte van Heiden den größten Teil seiner Laufbahn in uniformierten Polizeiabteilungen verbracht – zum Beispiel war er vorübergehend zur Hafenpolizei versetzt worden –, und sogar nach zehn Jahren auf seinem jetzigen Posten schien er sich nicht für die Rolle des Landeskriminalamtsleiters zu eignen.
Van Heiden blickte auf seine Uhr, als Fabel die Tür öffnete. Damit verfolgte er keinen bestimmten Zweck, sondern er hatte schlicht die Gewohnheit, die Zeit am Beginn und am Ende jeder Besprechung oder jedes Besprechungsabschnitts oder zwischen Besprechungen zu prüfen. Die Zeit war wichtig für van Heiden. Seit sieben Jahren arbeitete Fabel mit ihm zusammen, und die Beziehung war so entspannt und eng, wie eine Beziehung zu van Heiden nur sein konnte. Fabel hatte keinen Zweifel daran, dass der Kriminaldirektor ihn respektierte und sogar mochte, doch es war schwierig, ihn einzuschätzen. Er wirkte distanziert und schien sich abzuschotten.
Zwei weitere Männer saßen in van Heidens Büro, dem Schreibtisch gegenüber. Beide drehten sich auf ihren Sesseln um, als Fabel das Zimmer betrat. Einen von ihnen erkannte er sofort: Es war ein nicht sonderlich großer, fit aussehender Mann von Mitte fünfzig mit zurückweichendem, grau werdendem Haar, das er straff zurückgekämmt hatte, und mit einem sorgfältig gestutzten Bart. Wie bei ihrer ersten Begegnung wurde Fabel an einen erfolgreichen Filmregisseur, Künstler oder Schriftsteller erinnert. Er war verblüfft über die Synchronizität der Ereignisse.
»Ah, Jan … Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, sagte van Heiden und deutete auf den Sessel zwischen den beiden Männern. »Sie kennen Herrn Müller-Voigt, glaube ich?«
»Das stimmt.« Fabel schüttelte Müller-Voigt die Hand. »Wie geht es Ihnen, Herr Senator? Ich habe Sie heute Morgen im Radio gehört.«
»Ach das?« Müller-Voigt schien die Erinnerung an das Programm ein wenig zu irritieren. »Ich weiß nicht, warum sie mir diesen Idioten zugeteilt hatten …«
Fabel machte ein vages Geräusch des Einverständnisses, womit er verbergen wollte, dass er zu schläfrig gewesen war, um den Namen des Idioten oder die Einzelheiten der erörterten Thematik zur Kenntnis zu nehmen.
»Darf ich Ihnen Herrn Fabian Menke vom BfV vorstellen?« Van Heiden wies auf den anderen Mann. Menke war wohl Ende dreißig, hatte sich lichtendes blondes Haar und blaue Augen hinter einer rahmenlosen Brille. Sein Anzug war mehrere hundert Euro billiger als Müller-Voigts lässiger Designer-Chic.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz widmete sich allem, was als Gefahr für die deutsche Demokratie galt: Skinheads und Neonazis, linksextremistischen Gruppen, islamischen Terroristen, destruktiven Sekten, antidemokratischen Gruppen sowie ausländischer Spionage. Umstrittener war, dass das BfV die Aktivitäten von Scientology in Deutschland überwachte. Auch der Hamburger Innensenat verfügte über eine Scientology-Arbeitsgruppe.
Obwohl Fabel Menke nie begegnet war, hatte er von ihm gehört und wusste, dass er als Hauptverbindungsmann zwischen dem BfV und den Hamburger Strafverfolgungsbehörden fungierte. Van Heiden wandte sich an Menke. »Darf ich Sie mit Leitendem Hauptkommissar Fabel bekannt machen, dem Chef unserer Sondermordkommission?«
Fabel schüttelte auch Menke die Hand und setzte sich.
»Ich habe einiges über Ihr Team gehört, Herr Fabel«, sagte Menke. »Anscheinend helfen Sie nun auch anderen Mordkommissionen überall in der Bundesrepublik bei komplexen Fällen.«
»Wenn wir die Möglichkeit haben«, antwortete Fabel. »Im Moment haben wir ein zu großes eigenes Arbeitspensum.«
»Sie meinen wohl den Network-Killer-Fall?«, schaltete Müller-Voigt sich ein. »Ist heute Morgen nicht noch eine Leiche gefunden worden?«
»Wir haben eine Leiche gefunden, ja, Herr Senator. Aber wir haben noch nicht ermitteln können, ob hier eine
Weitere Kostenlose Bücher