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Jan Fabel 06 - Tiefenangst

Titel: Jan Fabel 06 - Tiefenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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draußen an einem der Tische neben dem Geländer des Alsterstreeks sitzen und die Schwäne beobachten, die den Wasserweg abpatrouillierten. Die Nähe des Wassers behagte Fabel und beruhigte ihn. Das war seltsam, denn als er in Norddeich aufwuchs, hatte er ein wenig Angst vor dem Wasser gehabt, besonders vor dem Meer. Er führte dies auf die instinktive Furcht der Ostfriesen und ihrer Nachbarn, der Niederländer, vor Überschwemmungen zurück. Fabels Elternhaus stand dicht hinter einem Deich, und in manchen Nächten – wenn auch nicht in vielen – hatte er wach gelegen und an die dunkle Masse des Meeres gedacht, die nur durch einen schlichten, von Menschenhand geschaffenen Wall zurückgehalten wurde.
    Ein Kellner kam herbei, um den Tisch abzuwischen, bevor er Fabels Bestellung aufnahm. Er begrüßte ihn mit einem Lächeln und erkundigte sich nach seinem Befinden. Es war ein Ritual und eine Bestätigung: Man kannte Fabel hier, doch er wusste, dass niemand vom Personal ahnte, womit er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, und das verstärkte sein Gefühl der Behaglichkeit. Häufig fragte er sich, wie die Leute ihn einschätzten, denn sie konnten ja nicht wissen, dass seine tägliche Arbeit mit Gewalt und Tod zu tun hatte. Sah er aus wie ein Hochschullehrer, was ihm am liebsten gewesen wäre, oder hielten sie ihn für einen Geschäftsmann? Der Gedanke an Letzteres deprimierte ihn.
    Fabel hatte gründlich darüber nachgedacht, wie die Menschen ihn und einander wahrnahmen – hauptsächlich deshalb, weil diese Frage sich häufig stellte, wenn er Gespräche mit Angehörigen und Freunden von Mördern führen musste. Natürlich geschah das nicht in der Mehrheit der Fälle, in denen der Mord von jemandem begangen worden war, der der Polizei als gewalttätig und potenziell gefährlich bekannt war. Die Mehrzahl der Morde, die Fabel untersuchte, fanden innerhalb eines gewissen Milieus statt und geschahen unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen. Aber es gab Fälle – besonders bei Sexualmorden –, in denen alle voller Verblüffung feststellten, dass der Mörder jemand war, den sie kannten; ein Wie-ist-das-nur-möglich-Mörder. Die aufgedunsene Leiche, die ohne Kopf und Gliedmaßen am Fischmarkt angetrieben worden war, konnte durchaus das Opfer eines solchen Täters sein.
    Im Lauf der Jahre hatte sich Fabel an den Schock und den Unglauben des Umfelds gewöhnt. Häufig mussten diejenigen, die den Mörder kannten, ihre Perspektive völlig ändern. Sie mussten lernen, jeden mit einem neuen Element des Misstrauens zu betrachten.
    Wir alle haben ein Gesicht, das wir der Welt zeigen, und ein Gesicht, das nur wir selbst sehen dürfen. Diese Worte stammten von Uwe Hoffmann, Fabels erstem Chef in der Mordkommission. Vielleicht war an diesem Network-Killer-Fall gar nicht so viel Neues. Vielleicht war das Internet nur eine Erweiterung der Dinge, wie sie immer gewesen waren. Fabel bestellte einen Salat und ein Mineralwasser und betrachtete die Schwäne, ohne an irgendetwas Bestimmtes zu denken, als sein Handy erneut biepte.
    Er las die Nachricht. Sie ergab keinen Sinn. Überhaupt keinen Sinn.

9.
     
    Das Eckhaus lag an der Grenze zwischen dem Schanzenviertel und St. Pauli. An seiner Rückseite führte eine Eisenbahnlinie entlang. Vor langer Zeit hatte es der Welt mit einiger Würde entgegengeblickt. Nun jedoch war seine Fassade mit einem fortlaufenden Gewirr aus zwei Meter hohem Graffiti tätowiert, und die Parterrefenster, die zur Hälfte von den Graffiti eingerahmt wurden, waren dunkel vor Ruß und Schmutz.
    Der junge Mann, der auf der anderen Straßenseite, unweit der Ecke, zögernd und vorsichtig in beide Richtungen schaute, hieß Niels Freese. Er überzeugte sich davon, dass keine Polizisten, weder in Uniform noch in Zivil, zu sehen waren, bevor er die Straße überquerte und an die schwere Tür des besetzten Hauses klopfte.
    Die dreckige Fensterscheibe war einen Moment lang noch dunkler geworden, während jemand im Innern die sich nähernde Gestalt musterte. Man würde ihn, wie ihm klar war, an seinem Hinken erkennen.
    Die Tür öffnete sich beim ersten Klopfen, und er schlüpfte in die dunkle Höhle des Hauses. Der Mann, der ihn einließ, war groß und schlaksig, ein bisschen älter als Niels, vielleicht dreißig, und hatte die Art von derbem Aussehen, welche die Aufmerksamkeit der Polizei erregte. Aber obwohl er den Mann sofort erkannt hatte, konnte er sich nicht an seinen Namen erinnern. Dann begriff er, dass er dem

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