Jan Fabel 06 - Tiefenangst
konzedierte, dass es, wie bei jeder wichtigen Konferenz in der Stadt, Grund zur Besorgnis gab, aber er begriff nicht so recht, welchen Zweck seine Anwesenheit hatte. Er war Kriminalbeamter, Mordermittler. Seine Arbeit fand nach einem Verbrechen statt; sie diente nicht dessen Verhinderung. Noch erstaunlicher kam es ihm vor, dass ausgerechnet Müller-Voigt seine Mitwirkung erbeten hatte. Fabel schaute unwillkürlich auf seine Uhr, was van Heiden nicht entging, doch Zeitkontrolle gehörte zu den Angewohnheiten des Kriminaldirektors, und er ließ keinen Ärger erkennen.
»Hören Sie, Jan«, kam ihm van Heiden entgegen. »Ich glaube, Sie sind auf dem Laufenden. Ich möchte Sie nicht aufhalten, da Sie noch eine Menge zu erledigen haben.«
»Vielen Dank.« Fabel hob die Akte hoch, als wolle er ihr Gewicht abschätzen. »Ich werde mich heute Abend damit beschäftigen.«
Fabel stand auf und schüttelte den drei Männern zum Abschied die Hand.
»Übrigens …« Müller-Voigt sah ebenfalls auf seine Uhr und runzelte die Stirn. »Es ist höchste Zeit für meinen nächsten Termin. Ich muss ebenfalls aufbrechen.«
»In Ordnung, Herr Senator«, sagte van Heiden und runzelte seinerseits die Stirn, denn der Gedanke, dass sich jemand zu einem Termin verspätete, bedrückte ihn. »Ich hoffe, wir haben Sie nicht zu sehr aufgehalten …«
»Nein, nein … überhaupt nicht. Herr Fabel, würden Sie mich hinausbegleiten? Ich möchte noch etwas mit Ihnen besprechen.«
»Gern …«
Das Hamburger Polizeipräsidium bildete einen Zylinder mit einem Innenhof in der Mitte und davon ausgehenden Flügeln. Dadurch sollte ein Polizeistern nachgebildet werden. Während Fabel und Müller-Voigt durch den gebogenen Korridor zum Lift gingen, machte der Politiker den üblichen Smalltalk. Fabel brauchte nur zwei Etagen hinunterzufahren, und sie stiegen gemeinsam in den Lift ein. Sobald sich die Türen schlossen, änderte sich Müller-Voigts Benehmen grundlegend. Er zeigte eine Aufgeregtheit, die Fabel niemals bei dem Umweltsenator erwartet hätte.
»Herr Fabel, ich muss mit Ihnen reden. Dringend.«
»Worüber?«
»Es ist eine lange Geschichte, aber sehr, sehr wichtig. Ich brauche wirklich Ihre Hilfe.«
»Ich verstehe nicht. Sie meinen, in beruflicher Hinsicht?«
»Ja … nein. Vielleicht. Aber es geht um Leben oder Tod. Um etwas, das ich vorläufig streng vertraulich behandeln möchte. Sie werden es verstehen, wenn wir miteinander sprechen. Können Sie mich heute Abend besuchen? Gegen 19.30 Uhr?«
Fabel hob die Akte. »Ich hatte geplant, etliche Seiten zu lesen …«
»Dies hier ist wichtiger, Herr Fabel.«
Sie erreichten das Stockwerk der Mordkommission, und die Türen öffneten sich. Fabel trat hinaus, hielt jedoch eine der Türen fest, damit sie sich nicht schloss.
»Wenn dies eine offizielle Angelegenheit ist …«
»Tun Sie mir den Gefallen, Herr Fabel. Ich muss wirklich mit Ihnen reden. Ich habe sonst niemanden. Können Sie kommen oder nicht?«
Fabel musterte den Umweltsenator einen Moment lang. »Ich werde da sein.« Er ließ die Türen zufallen. Während er den Korridor entlang zu seinem Büro schritt, wurde er von Müller-Voigts Miene verfolgt. Er hatte noch nie erlebt, dass der Politiker die Fassung verlor – nicht einmal an dem Tag, als er den Senator als potenziellen Mordverdächtigen vernommen hatte.
Was ihn beunruhigte, war der Umstand, dass Müller-Voigt nicht nur aufgewühlt, sondern geradezu verängstigt gewirkt hatte.
11.
Niels Freese wartete unter einem Baum an der Straßenecke und schaute zum Café hinüber. In einer Hand hielt er eine schwarze Reisetasche, deren Griff er fest umklammerte. Er trug eine weite Feldjacke, Jeans und auf seinem schmalen, langen Kopf eine schwarze Wollmütze. Es war eine hochgerollte Sturmmütze, die er über sein mageres Gesicht ziehen konnte, wenn der Moment eintrat.
Und der Moment näherte sich.
Niels überzeugte sich rasch, dass Harald in Position war und den Leerlauf des gestohlenen Motorrads eingelegt hatte. Dann schloss er die Hand um die geladene Automatikpistole in seiner Jackentasche, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem heranrollenden Mercedes zuwandte.
Niels Freese war achtundzwanzig Jahre alt und so wütend, wie ein junger Mann es nur sein konnte. Aber Wut war kein ausreichendes Wort, kein hinreichend umfassender Begriff, um Niels’ Gefühle zu beschreiben, während er dastand und wartete, bis der Mercedes parkte. Er war ein Sehender in einem Land der
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