Jan Weiler Antonio im Wunderland
Haus zu verlassen.
«Wo wollte ihr dennin?» fragte er Ursula.
«Was besorgen», antwortete sie betont gelangweilt.
«Unde was?»
«Dies und das», sagte Ursula, deren Versuche, ihren Mann abzuschütteln, aussichtslos waren.
«Na, da kommi mit», rief Antonio fröhlich und zog sich die Jacke an.
«Ich muss aber zum Arzt, Papa», sagte Sara, deren Befürch-tungen sich in roten Flecken an Hals und Wangen äußerten.
«Biste du krank?»
«Nicht direkt krank. Ich muss halt zum Arzt.»
«Kein Problem. Begleiti dich und musste keine Sorgen machen, deine Papa iste da.»
«Ich mache mir keine Sorgen, Papa.»
«Aha. Und warum gehste dann zu ein Arzt? Hä?»
Der Einsicht folgend, dass sie ihn ohnehin nicht loswerden konnten und es besser war, den Familienstreit nicht in einer Arztpraxis, sondern zu Hause auszutragen, sagte Ursula die Wahrheit: «Antonio, sie braucht die Pille.»
«Die Pille. Was für ein Pille?»
«Na, die Pille halt. Du weißt doch sowieso schon längst, dass wir heute zum Arzt wollen. Wahrscheinlich hast du uns belauscht. Deswegen bist du nicht bei der Arbeit und drückst dich hier seit heute Morgen herum.»
Diese absolut richtige Unterstellung überhörte Antonio geflissentlich. Dafür fiel ihm seine Lebensmittelvergiftung wieder ein. Er beugte sich sterbenskrank vornüber und stützte sich auf dem Treppengeländer ab. So blickte er waidwund seiner Tochter in die Augen. Unerträglich, wirklich. «Du willste keine Kinder?»
75
«Doch, Papa, aber noch nicht jetzt. Das ist noch viel zu früh.»
«Sehr gut, findi auch, ist bisschen früh, in Ordnung.» Pause, Nachdenken. «Aber warum dann der Pille?»
Sara sah ihre Mutter an, und die nahm den ganzen Mut mütterlicher Komplizenschaft zusammen und sagte: «Damit unsere Tochter nicht jetzt schon schwanger wird. Antonio. Sie ist eine junge Frau.»
«Heißte, sie machte eimelich mit einer der Junge rum?»
«Ich mache gar nicht rum.»
«Dubisteein Kind!»
«Bin ich nicht.»
«Doch biste ein kleine Mädche.»
Antonio war wieder vollständig genesen und reckte sich zu seiner vollen Größe auf. Obwohl er nicht der Meinung war, dass Frauen vor der Hochzeit über Babys und deren Vermei-dung nachdenken sollten – er selber hatte für seine Person überhaupt nie darüber nachgedacht, aber er war ja auch keine Frau –, war ihm klar, dass seine Ansichten hier offenbar auf Widerstand stießen. Und das nicht nur bei Sara. Seine eigene Frau bedeutete ihm nun mit eindeutig zornigem Blick, in dieser elementaren Angelegenheit den Schwanz einzu-ziehen. Was tun? Er konnte nun herumbrüllen, Strafen an-drohen, sich beleidigt zurückziehen und zwei Wochen nicht mit seiner Tochter und seiner Frau reden. Antonio entschied sich nach angemessener Bedenkzeit dafür, zu tun, was man einen emotionalen Überraschungsangriff nennt: Er begann zu weinen.
«Mama, was ist denn jetzt los?», fragte Sara, die mit allem, aber nicht damit gerechnet hatte.
«Antonio, was hast du?», fragte Ursula.
«I bin einsam und traurig», entgegnete Antonio, der seine 76
Sache immerhin so gut machte, dass Sara ebenfalls anfing zu heulen.
«Ihr lasst der arme Vater hier zu Haus zurucke und der Mädchen geht mit ein fremde Mann.»
«Ach, Antonio, jetzt hör aber mal auf», sagte Ursula. «Kein Mensch lässt dich alleine irgendwo zurück.»
«Gut, dann kommi mit zu der Doktor da.»
Also ging Sara nicht heimlich mit ihrer Mutter zum Frauenarzt, sondern offiziell mit ihren Eltern. Unterwegs erholte sich Antonio von seinem Kummer und presste Sara ab, ihre zukünftigen Geschlechtspartner vorher kennen zu lernen, um sie vor den schlimmsten Reinfällen bewahren zu können.
Immerhin sei er ein «tsükologise Ass» und ein perfekter Men-schenkenner. Ich weiß nicht, wie lange sie das wirklich gemacht hat, aber am Anfang auf jeden Fall. Zum Glück habe ich sie erst kennen gelernt, als sie schon Mitte zwanzig und aus Antonios Radar verschwunden war.
Beim Arzt setzte sich Familie Marcipane weisungsgemäß ins Wartezimmer, wo Antonio sofort nach italienischen Zeit-schriften suchte und keine fand. Sara sah aus dem Fenster, und Ursula hielt ihre Hand, bis die ganz feucht war. Als Sara aufgerufen wurde, stand Antonio wie selbstverständlich auf und sagte: «Hier das sinde wir.»
«Papa kommt nicht mit rein», sagte Sara und wusste, dass es zwecklos war. Antonio befand sich schon auf dem Weg ins Sprechzimmer, wo er seine Mütze abnahm, Doktor Kunz unterwürfig begrüßte und sich hinsetzte, die
Weitere Kostenlose Bücher