Jan Weiler Antonio im Wunderland
ihr waren, weil sie wussten, was Fremdsein bedeutet, diese Frauen zeigten einander ihre neuen Kleider und berichteten von den Benachteili-gungen, denen sie die Woche über ausgesetzt gewesen waren.
Seltsamerweise klagten sie zwar, lachten aber dabei. Sie schie-nen sich nicht als Opfer einer ungerechten Gesellschaft zu empfinden, sondern sogar in gewissem Sinne als überlegen, sie fühlten sich eher unverstanden als schlecht behandelt, und sie wussten, wie man seinen Nutzen daraus zog.
Auf Ämtern hielten sie zum Beispiel den Betrieb unnötig und absichtlich auf, indem sie sich alles dreimal erklären lie-
ßen. Beim Einkaufen prüften sie zwölf Äpfel und kauften drei.
Und wenn ihre Kinder etwas anstellten, zuckten sie mit den Schultern und sagten auf die Anklagen ihrer Nachbarn bloß:
«Nix verstehen.» Niemand konnte genau sagen, ob das die Wahrheit war, aber eines stimmte ganz sicher: Die Situation in dem fremden Land war viel einfacher, wenn man die Gesellschaft, die einen nicht zu sich ins Warme bat, seinerseits ausschloss. Die Italiener blieben am liebsten unter sich – und Antonios Töchter mussten mit.
Als Sara 1975 in die Schule kam, hielt Antonio es für angebracht, jeden Elternabend und jeden Eltern Sprechtag zu besuchen. Er verlangte eine saubere Schule, Gesundheitszeug-nisse der Lehrer und einen Unterricht, in welchem gefalligst auch die römische und vor allem die italienische Geschichte gelehrt werden sollte. Der Hinweis von Saras Lehrerin, dass auch die deutsche und die germanische Geschichte nicht auf dem Lehrplan der ersten Klasse standen, veranlasste ihn zu der Bemerkung, dass dieser Verlust der kulturellen Identität vielleicht der Grund dafür sei, dass es mit Deutschland berg-70
ab ginge. Damit brachte er die ausnahmslos deutschen Eltern der Klasse gegen sich auf, und natürlich landeten deren Res-sentiments bei ihren Kindern, die sie folgerichtig an Sara und Lorella ausließen.
Sie wurden innerhalb von wenigen Wochen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, da half auch ihr schönstes Lächeln nichts. Was sich zunächst nur in der Klasse abspielte, griff bald auf die halbe Schule über, und Schuld daran hatte wiederum Antonio, der nur das Beste wollte, aber das Schlimmste tat, als er eines Tages entschied, dass seine Töchter fürderhin gelbe Mützen tragen sollten.
Er fand, dass sie damit auf dem Schulweg besser zu sehen und damit sicherer waren. Kaum hatten sie den Garagenhof überquert und waren außer Sichtweite, stopften sie die Mützen, die von ihrer Mutter auf Geheiß des Familienoberhauptes gestrickt worden waren, in ihren Schulranzen. Natürlich wurden sie dabei beobachtet. Jungen – es sind immer Jungen – klauten die Mützen aus den Taschen und rannten damit in der Pause herum. Sie warfen sich die Mützen zu, setzten sie auf, rissen sie sich gegenseitig von den Köpfen und ließen die Mädchen nah herankommen, um sich die blöden gelben Dinger dann zuzuwerfen. Lorella und Sara bekamen sie erst nach der Schule wieder, als sie verdreckt und kaputt in der Kastanie vor der Schule hingen.
Von da an und für eine lange Zeit hießen die Schwestern in der Nachbarschaft Gelbkäppchen 1 und Gelbkäppchen 2, und das, obwohl sie die Mützen heimlich entsorgten und Antonio so lange vorschwindelten, die Mützen in der Schule liegen gelassen zu haben, bis er sie schließlich irgendwann vergessen hatte. Leider war er da der Einzige. Zu Hause verschwiegen die Mädchen sowohl die Spitznamen als auch das quälende Spießrutenlaufen auf dem Schulhof, denn sie wollten auf kei-71
nen Fall, dass sich ihr Vater des Problems annahm. In anderen Familien wären Kinder froh gewesen, wenn sich ihr Vater für sie eingesetzt hätte, bei den Marcipane-Töchtern galt dies als größte anzunehmende Katastrophe.
Ich ahnte bisher, dass Sara als Gastarbeiterkind immer wieder einmal Schwierigkeiten gehabt hatte, aber diese Geschichten sind mir neu. Wir sitzen in meinem Lieblingslokal in Campobasso, dem Café Montefiori. Der Wirt Daniele bringt uns Kaffee, in dem Sara lange herumrührt. Man sieht den Menschen ihre Vergangenheit nicht an. Wer weiß schon, ob einer ein glückliches Kind war. Es fällt ihr schwer, diese Wahrheiten zu offenbaren. Ich soll sie als das sehen, was sie ist: Eine schöne Frau, die kluge Dinge sagt und in einer großen Stadt lebt. Auf keinen Fall soll ich das gehänselte Kind mit dem irren Vater in der Kleinstadt sehen, auf keinen Fall!
Aber ich habe es schon gesehen, ganz oft sogar,
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