Jan Weiler Antonio im Wunderland
Wiedersehen», sagte Rolf und verschwand schnell im Flur, begleitet von Sara, die ihm bis an die Tür folgte. Er gab ihr einen kurzen Kuss auf den Mund und ging. Er kam nie wieder. Als Sara ins Wohnzimmer kam, erfreute sich Antonio immer noch an seinem Spitzenwitz und nahm einen Schluck Bier.
«Das vergesse ich euch nie», schrie sie. «Vielen Dank, Papa.»
«Wirst noch dankbar sein für mein Wissen von der Menschen. Der Kerle da iste ein Arschlock, glaube mir.»
Später musste Sara zugeben, dass ihr Vater Recht hatte. Rolf erzählte überall eine ganz besonders gemeine Version seiner Begegnung mit dem bekloppten Herrn Marcipane herum und vergaß nie zu erwähnen, dass Sara frigide sei.
Als er ein paar Wochen später nach der Schule zu seinem Mofa kam, war es nicht mehr grün, sondern rosa. Jemand 83
hatte sich die Mühe gemacht, es komplett umzulackieren –
während der Schulstunden. Der Täter wurde nie gefunden.
Als Sara das erzählt, muss sie lachen.
«Er war natürlich auch ganz wunderbar», sagt sie. Antonio war ihr Trainer, als sie Volleyball spielte, und pritschte stundenlang Bälle mit ihr durch den Garten. Er kam zu jedem Spiel und feuerte sie an, bis sie ihn bat, damit aufzuhören. Er reparierte Fahrräder und tapezierte die Zimmer seiner Töchter jedes Jahr neu, damit sie es schön hatten.
Am Nachmittag gehen wir zurück zu Nonna Anna. Antonio und Ursula sind nicht da, sie besuchen den Neugeborenen Primo, der von Antonio in vorausschauender Großzügigkeit einen Tennisschläger geschenkt bekommt. Als wir ins Gästezimmer kommen, liegt auf ihrem Kissen eine riesige Scho-koladenbombe in Zellophan. Das Ding wiegt drei Kilo, und wenn es nicht schmilzt, können wir bis an unser Lebensende davon zehren.
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SEI
Schließlich entwickelt sich der Urlaub doch noch sehr schön, auch für Sara, die ihrem Vater versucht zu verzeihen. Es bleibt ihr und mir nichts anderes übrig, als ihn zu lieben, und die ganze Familie dazu. Diese kratzigen Kerle, von denen man nie genau weiß, was sie eigentlich beruflich machen. Und ihre Frauen, deren Hüften erst schmal, dann rund und irgendwann, so nach dem dritten Kind, riesig werden. Wie bei Bibendum. 1 Sie können unglaublich sauer gucken, diese Frauen, aber meistens sind sie das gar nicht. Das ist halt so ein Italo-Frauen-Look.
Man kann meinen Verwandten nicht gerade vorwerfen, nicht laut genug zu sein. Allerdings ist jede Familie in der Nachbarschaft laut, und alle sind irgendwie anders laut. Kenner können eine italienische Familie am Sound erkennen. Bei manchen dominieren die Mütter, bei anderen die Kinder und bei uns Onkel Rafïaele, Sein Organ ist wirklich markerschütternd, vor allem wenn er seine Kinder ruft oder singt. Da er beides ständig macht, ergibt sich ein ungeheuerlicher Klang-teppich, auf dem wir durch den Urlaub fliegen. Wenn er nicht zufälligerweise der Onkel meiner Frau wäre, würde ich ihn für unerträglich und sein Gebrüll für den schlimmstvorstellbaren Ton halten. 2
1 Angeber wissen: Bibendum heißt das Michelin-Männchen.
2Nach längerer Überlegung muss diese Aussage revidiert werden.
Der mit weitem Abstand sadistischste, der gemeinste, der fieseste 85
1 Seit einiger Zeit hat Onkel Raffaele einen Job. Das wäre nichts Besonderes, wenn es nicht sein allererster wäre. Er ist bereits 67 Jahre alt und hat noch nie ernsthaft gearbeitet. Hat mal gegen Bares beim Renovieren geholfen oder vielleicht ein Auto repariert, aber das waren Nebenjobs, wie er selber sagte.
«Neben» neben Nichtstun. Nun aber hat er zu dem Ankreuzen von Lottozahlen noch eine regelmäßige Betätigung gefunden, in der er alle seine Talente (rumbrüllen, sich hinten anstellen, leere Kästchen ausfüllen) gut gebrauchen kann. Auch diese Aufgabe ist quasi inoffiziell und keineswegs mit der Zahlung von Steuern oder anderen Abgaben verbunden. Aber immerhin ist er aus dem Haus, was seine Frau natürlich großartig findet. Da kann sie mal für zwei oder drei Stündchen die Watte aus den Ohren nehmen.
Onkel Raffáele arbeitet in der Stadtverwaltung, und diese Formulierung muss man wörtlich nehmen. Er stellt sich vor den Eingang der Behörde und wartet auf Bürger, die Anträ-
ge stellen und Formulare ausfüllen müssen. Damit muss man sich nämlich auskennen, und wenn Raffáele Marcipane in den Jahren hemmungslosen Sozialschmarotzertums in irgendetwas eine Meisterschaft entwickelt hat, dann in der Bewälti-gung von Behördenkram. Und der ist in Italien wirklich
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