Jan Weiler Antonio im Wunderland
eigentlich immer, wenn sie mit ihm zusammen ist. Dann ist sie so be-fangen, genervt, angespannt.
«He, Gelbkäppchen, was ist denn?», frage ich und versuche ihr Gesicht zu streicheln.
Sie schlägt meine Hand weg und zischt: «Sag das nie mehr!
Nicht mal im Spaß. Sag das nie mehr!» Dann steigen ihr Tränen in die Augen. Sie lässt ihren Kopf sinken. Ich küsse ihre Haare.
«Wenn ich mit meinem Papa zusammen bin, dann bekomme ich irgendwie Angst», sagt sie nach einer Weile.
«Wovor bekommst du Angst?»
«Ich weiß es nicht. Vor der Vergangenheit vielleicht.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Es ist schwer zu erklären. Wenn ich meinen Vater sehe, denke ich sofort, dass ich eigentlich gar nicht zu dir gehöre, sondern zu ihm, in seine Welt. Ich komme mir manchmal vor 72
wie ein Betrüger, so als hätte ich mir mein jetziges Leben erschwindelt.»
Wir sehen den Malern zu, die gegenüber ein altes Haus streichen. Sie bestellt ein Wasser und erzählt weiter.
Die Gelbkappchenaffäre schweißte die Kinder enger zusammen, aber die Distanz zu ihrem Vater, den sie insgeheim für ihre Außenseiterrollen verantwortlich machten, wurde größer. Antonio entwickelte sich schließlich zu einer regel-rechten Bedrohung für Sara und Lorella, als diese begannen, sich für Jungs zu interessieren.
Lorella, die Ältere, machte ihre Erfahrungen im Wesentlichen auf Partys, nie brachte sie einen Jungen auch nur in die Nähe ihres Elternhauses. Sie hielt sich streng an Ausgehzeiten und erwarb damit das Vertrauen ihres Vaters, der sich nicht im Traum vorstellen konnte, dass eine seiner Töchter jemals a) rauchen, b) Alkohol trinken und c) die Bekanntschaft mit männlichen Jugendlichen machen, geschweige denn suchen würde, bevor sie, sagen wir mal, 25 Jahre alt sein würde.
Im Gegensatz zu Lorella fügte Sara sich nicht so einfach in Antonios kompliziertes Regelwerk. Sie kam zu spät nach Hause. Sie rauchte heimlich. Und sie brachte Jungs bis ganz dicht vor die Tür. So dicht, dass Antonio sie sehen konnte, wenn er die Gardine in der Küche zur Seite schob. Sara knutschte dann absichtlich aufreizend mit irgendeinem Frank oder Andreas, um ihren Vater zu provozieren. Dieser klopfte mit seinem Ehering von innen an die Scheibe, um auf sich aufmerksam zu machen. Sara warf ihm einen genervten Blick zu.
Wenn sie schließlich ins Haus kam, stellte Antonio seine Tochter und fuchtelte mit seinen Händen vor ihrem Gesicht herum, während er von Familienehre und Sauerei sprach und sie «eine ganz dumme Salat» nannte. Sara machte das wenig aus, denn zu drakonischen Strafmaßnahmen war Antonio 73
nicht in der Lage. Als er einmal Hausarrest verordnete, hob er diesen nach einer knappen halben Stunde wieder auf, weil ihm seine Tochter so entsetzlich fehlte und er ihre Rache –
«wenni mi nickte mehr wehre, schiebste du meiner Rollstuhl in eine See» – fürchtete.
Kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag, ein gewisser Rolf war in ihr Leben getreten, indem er ihr auf einem Schulfest eine Cola spendiert hatte, bat Sara ihre Mutter, sie zu einem Frauenarzt zu begleiten. Sie brauchte ein Rezept für die Pille und elterlichen Beistand. Insgeheim wollte sie wohl auch, dass zumindest ihre Mutter wusste, dass es, dass sie nun so weit war. Ihren Vater hätte sie in dieser Sache niemals ins Vertrauen gezogen, das Risiko eines enormen Antonio-Auftritts wäre viel zu groß gewesen.
Mutter und Tochter verabredeten daher nach einem Blick auf Antonios Schichtplan einen Termin an einem Dienstag um 14 Uhr. Antonio würde arbeiten und das Wunder der Empfängnisverhütung von ihm ungeahnt vonstatten gehen.
An nämlichem Dienstag erkrankte Antonio jedoch morgens an einer Scheibe Cervelatwurst und konnte nicht zur Arbeit gehen. Sara und Ursula versuchten ihn zu überreden, aber Antonio wand sich in Krämpfen und legte sich anschließend auf die Couch, um Arbeitslosenfernsehen anzuschauen. Ursula wollte schon den Termin absagen, aber Sara war dagegen, denn ihre Beziehung zu Rolf hing an einem seidenen Faden und von der Einnahme der Pille ab.
Gegen Mittag ging es Antonio spürbar besser. Beim Mittagessen dozierte er vom Wesen der Liebe und von seinen wunderbaren Töchtern, ohne die er bloß Plankton im Meer des Lebens sein würde. Oh, und wie arm das Leben ohne Kinder sei.
Gegen 13:30 Uhr beschloss Antonio, ein kleines Nickerchen zu machen, welches er um 13:34 Uhr beendete, als er gewahr 74
wurde, dass seine Tochter und ihre Mutter sich im Flur anzogen, um das
Weitere Kostenlose Bücher