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Jan Weiler Antonio im Wunderland

Jan Weiler Antonio im Wunderland

Titel: Jan Weiler Antonio im Wunderland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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sich endlich mal was Schönes kaufen kann. Und er nimmt nicht zur Kenntnis, dass sie eine erwachsene verheiratete Frau ist.
    Früher war alles anders. Als Kinder bewunderten Sara und Lorella ihren Vater, der Doppelschichten schob, den sie manchmal tagelang nicht sahen und der dennoch immer fröhlich war, wenn er nach Hause kam. Dann hob er seine Töchter hoch, nahm jede auf einen Arm und spielte Flugzeug mit ihnen. Er kümmerte sich nicht groß um Schulzeugnisse, denn seiner Meinung nach waren seine beiden Mädchen Genies, und nichts konnte ihn von dieser Überzeugung abbringen.
    Und was die Leute in der Nachbarschaft von ihm dachten, war ihm egal.
    Wir schlendern über den corso von Campobasso, um die Mittagsstunden wird es hier brütend heiß. Kein Mensch hält sich jetzt draußen auf, sogar die Hunde laufen nur im Schatten von Haus zu Haus. Ich spüre die Hitze aber nicht, ich höre Sara zu. Sie hat sich so viel von der Seele zu reden.

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CINQUE
    Sara hat nie viel von zu Hause erzählt, das meiste konnte ich mir ja denken. Für sie zählte immer nur unsere Gegenwart. Alles, was ihren Vater betrifft, ist Vergangenheit. Ich habe dazu eine Theorie. Um mit einem Menschen glücklich zu sein, muss man immer Gemeinsamkeiten in zwei Zeitebenen haben. Entweder man teilt die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander oder die Gegenwart und die Zukunft. Bei Sara und mir ist das so. Wenn es nur eine Zeitebene gibt, funktioniert die Beziehung nicht. Wie oft hat man schon beklagt, dass eine Freundschaft nur in der Rückschau schön ist, man sich aber in der Jetztzeit leider gar nichts mehr zu sagen hat? Das sind dann die Bezie-hungen, die nur in der Verklärung von früheren Abenteuern vor sich hin dümpeln, aber es kommt kein neues hinzu.
    Bei Sara und ihrem Vater scheint das ganz ähnlich zu sein.
    Sie haben keine Gegenwart und keine Zukunft. Traurig, aber wahr. Vielleicht lässt sich daran noch etwas ändern, wenn man sich Mühe gibt. Im Moment will sie das nicht. Sie möchte mir – nachdem wir schon sechs Jahre zusammen sind – endlich erzählen, wie ihre Kindheit war. Ich habe sie schon oft danach gefragt, aber dann antwortete sie immer nur: «Schön», und machte deutlich, dass sie nicht darüber sprechen wollte. Jetzt will sie, damit ich auf ihrer Seite stehe. Wir holen uns eine gra-nita 1 und spazieren Richtung Burg. Sara fängt an zu erzählen.
    1 Das ist ein krümeliges Sorbet, welches in Italien meistens in Farben angeboten wird, die man bei uns mit Plutonium assoziiert.
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    Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis das kleine Reihenhaus der Marcipanes ein richtiges Geländer im Treppenhaus hatte, und in den ersten Jahren hing eine lose Glühbirne von der Decke im Flur. Alles bei Antonio Marripane schien provisorisch und unfertig, sogar die Kinder, die in der Nachbarschaft nur schwer Anschluss fanden und ständig gehänselt wurden. Spaghetti-Fresser nannte man sie, manchmal auch Iraker. Dabei tat Sara alles dafür, Freundschaften zu schließen.
    Die Bemühungen des Mädchens endeten meist an der Tür ihres Elternhauses. Sie durfte niemanden mitbringen, das wollte Antonio nicht. Seiner Logik zufolge hatten es sich die anderen nicht verdient, sein Haus betreten zu dürfen. Wenn er schon kaum Einlass zu dieser Gesellschaft fand, dann hatte diese bei ihm eben auch keinen Zutritt. Für Sara war dieses väterliche Edikt eine einzige Katastrophe. Sie konnte niemandem ihr Zimmer zeigen, mit niemandem zu Hause spielen, die Zweifel der Nachbarskinder an der Normalität ihres Elternhauses nicht ausräumen. Sosehr sie auch bettelte, bevor sie zehn Jahre alt war, hatte kein Fremder jemals das marcipanesche Eigentum betreten.
    An den Wochenenden ging es entweder zum Bahnhof oder gemeinsam zur italienischen Gemeinde. Die italienische Gemeinde war ein locker organisierter Verein, in dem die Gastarbeiter ihrem Heimweh frönten, italienischen Kuchen aßen und sich über die Deutschen mokierten. Man half sich gegenseitig mit Behördenkram oder besorgte einander Jobs, in denen nebenher etwas zu verdienen war. Jeder brachte seine Kinder mit, und so spielten Sara und Lorella hauptsächlich mit Leidensgefährten, die auch nur schlecht Anschluss fanden, was sich natürlich verschlimmerte, indem sie unter sich blieben.
    In der italienischen Gemeinde wurden Geschäfte gemacht, 69
    Möbel und Kleider getauscht und lange gestenreiche Gesprä-
    che gefuhrt. Die Frauen, zu denen Ursula zwar nicht so richtig gehörte, die aber dennoch sehr nett zu

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