Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Stühlen. Ich weiß nicht mehr, welche Scharade Colonel Dent und seine Gesellschaft aufführten, welches Wort sie wählten und wie sie es darstellten. Aber ich sehe noch heute die Beratung vor mir, welche nach jeder Szene folgte; ich sehe, wie Mr. Rochester sich zu Miss Ingram wandte und Miss Ingram sich zu ihm. Ich sehe, wie sie ihm ihr Haupt zuwandte, bis ihrerabenschwarzen Locken fast auf seiner Schulter ruhten und seine Wangen streiften. Ich höre ihr Geflüster, ich rufe mir die Blicke ins Gedächtnis zurück, welche sie miteinander wechselten, und sogar die Empfindungen, welche mich in jenem Augenblick beherrschten, steigen in der Erinnerung von Neuem in meiner Seele auf.
Ich habe dir, lieber Leser, ja schon gesagt, dass ich mich in Mr. Rochester verliebt hatte. Ich konnte dieses Gefühl nicht wieder in mir ersticken, nur weil ich fand, dass er gänzlich aufgehört hatte, meine Gegenwart zu bemerken – ich konnte stundenlang in seiner Nähe sein, ohne dass er auch nur ein einziges Mal einen Blick zu mir herübersandte –, oder weil ich sah, wie seine ganze Aufmerksamkeit sich auf eine schöne und vornehme Dame konzentrierte, die mich nicht einmal für würdig hielt, den Saum ihres Gewandes zu streifen, wenn sie stolz an mir vorüberrauschte. Die ihre dunklen und gebieterischen Augen sofort von mir abwandte, wenn ihr Blick mich zufällig traf, als ob ich ein Gegenstand wäre, der zu gering ist für die Betrachtung eines so hochstehenden Wesens. Ich konnte nicht aufhören, ihn zu lieben, nur weil ich sicher war, dass er diese Dame binnen kurzem heiraten würde – nur weil ich täglich aus der stolzen Sicherheit ihrer Haltung sah, dass sie über seine Pläne und Absichten in Bezug auf sie vollständig im Klaren war – nur weil ich stündlich Zeugin seiner Huldigungen war, die, wenn sie auch nachlässig waren und in seinen Worten eher entdeckt sein wollten, als dass er selbst nach Gelegenheiten für sie suchte, doch gerade durch diese Nonchalance bezaubernd und in ihrer stolzen Art unwiderstehlich waren.
All diese Umstände brachten nichts mit sich, das meine Liebe hätte abkühlen oder ersticken können, nein, sie brachten nur tiefinnerste Verzweiflung. Und, mein Leser, vielleicht meinst du auch, sie hätten mir Eifersucht bringen können, wenn ein Mädchen in meiner Stellung überhaupt hätte wagen können, auf eine Frau wie Miss Ingram eifersüchtigzu sein. Aber ich war nicht eifersüchtig, oder doch nur sehr selten – die Art des Schmerzes, welchen ich empfand, würde durch dieses Wort schlecht bezeichnet gewesen sein. Miss Ingram stand unter dem Niveau der Eifersucht; sie war zu unwürdig in geistiger Beziehung, um dieses Gefühl in mir erwecken zu können. Man entschuldige dieses Paradoxon, aber ich meine, was ich sage. Sie war wunderschön und hatte viele Fähigkeiten, aber ihr Geist war armselig und ihr Herz war von Natur aus unfruchtbar. Nichts blühte von allein auf diesem Boden, er trug keine natürlichen Früchte, die erquicken konnten. Sie war nicht gut, sie war nicht echt, sie pflegte volltönende Phrasen aus Büchern zu wiederholen. Sie sprach niemals eine eigene Meinung aus, denn sie hatte keine eigene Meinung. Sie schlug einen hohen Gefühlston an, aber sie kannte nicht das Gefühl der Sympathie und des Mitleids, Zärtlichkeit und Aufrichtigkeit waren nicht in ihr. Nur zu oft verriet sie dies, wenn sie der trotzigen Antipathie, welche sie ungerechterweise gegen die kleine Adèle gefasst hatte, freien Lauf ließ. Mit abfälligen Schimpfworten stieß sie das Kind von sich, wenn es sich ihr zufällig näherte; oft schickte sie Adèle aus dem Zimmer, und immer behandelte sie sie mit unveränderlicher Kälte, mit Bitterkeit und beißendem Spott. Außer den meinen verfolgten aber auch noch andere Augen diese Kundgebungen ihres Charakters – verfolgten sie genau, scharfsichtig und fein. Ja, der künftige Gatte Mr. Rochester selbst beobachtete seine Zukünftige unausgesetzt. Und aus dieser seiner klugen Wachsamkeit, dieser vollkommen klaren Erkenntnis der Mängel und Fehler seiner Schönen, dieser seiner in die Augen fallenden Leidenschaftslosigkeit für sie – aus all diesem entsprang mein grenzenloser Schmerz.
Ich sah ein, dass er sie heiraten würde; aus Rücksicht auf die Familie, vielleicht auch aus politischen Gründen, weil ihr Rang und ihre Verbindungen ihm zusagten. Ich fühlte aber, dass er sie nicht liebte, und dass ihre Eigenschaftenauch nicht geeignet waren, ihm dieses Gefühl
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