Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
vorhatte, als das erste Mal zur Abwechslung der Abendunterhaltung eine Scharade vorgeschlagen wurde – in meiner Unwissenheit verstand ich den Ausdruck nicht. Die Diener wurden hereingerufen, die Speisetische beiseite gerollt, die Lampen anders platziert und die Stühle dem Türbogen gegenüber in einem Halbkreis aufgestellt. Während Mr. Rochester und die anderen Herren diese Veränderungen anordneten, liefen die Damen treppauf und treppab und riefen nach ihren Zofen. Mrs. Fairfax wurde herbeigerufen, um Auskunft über die Hilfsquellen zu geben, welche das Haus an Schals, Kleidern und Draperien aller Art zu bieten vermochte. Im dritten Stockwerk wurden gewisse Garderoben durchsucht, und die Zofen brachten ganze Arme voll von Brokatreifröcken, seidenen Kleidern, schwarzen Gewändern, Spitzenüberwürfen und dergleichen mehr herunter. Dann wurde eine Auswahl getroffen, und die ausgesuchten Sachen, die dem gewünschten Zweck entsprechen konnten, wurden in das Boudoir hinter dem Salon gebracht.
Inzwischen hatte Mr. Rochester die Damen wieder um sich versammelt und suchte eine Anzahl von ihnen aus, die zu seiner Abteilung gehören sollten. »Miss Ingram ist natürlich die meine«, sagte er. Später ernannte er dann noch die beiden Miss Eshton sowie Mrs. Dent. Dann sah er mich. Zufällig stand ich in seiner Nähe, da ich gerade damit beschäftigt war, das Schloss von Mrs. Dents Armband, das aufgegangen war, wieder zu schließen.
»Wollen Sie mitspielen?«, fragte er. Verneinend schüttelte ich den Kopf. Er drang nicht weiter in mich, wie ich schon gefürchtet hatte, sondern gestattete mir, ruhig auf meinen gewöhnlichen Sitz zurückzukehren.
Nun zogen er und seine Helferinnen sich hinter denVorhang zurück. Die andere Abteilung, welche von Colonel Dent angeführt wurde, nahm auf den im Halbkreis aufgestellten Stühlen Platz. Als einer der Herren, Mr. Eshton, meiner ansichtig wurde, schlug er wohl vor, mich auch hinzuzubitten, aber Lady Ingram wies diesen Vorschlag sofort zurück.
»Nein«, hörte ich sie sagen, »sie sieht zu dumm aus für ein Spiel dieser Art.«
Es währte nicht lange, so erklang eine Glocke, und der Vorhang wurde aufgezogen.
Innerhalb des Türbogens gewahrte man, in ein weißes Betttuch gehüllt, die große Gestalt Sir George Lynns, welchen Mr. Rochester ebenfalls ausgewählt hatte. Vor ihm auf dem Tisch lag ein großes, aufgeschlagenes Buch; ihm zur Seite stand Amy Eshton, die sich in Mr. Rochesters Mantel drapiert hatte und ebenfalls ein Buch in der Hand hielt. Eine unsichtbare Gestalt läutete eine lustig klingende Glocke, dann kam Adèle nach vorn – welche darauf bestanden hatte, zur Gesellschaft ihres Vormundes zu gehören – und streute den Inhalt eines Blumenkorbes aus, den sie am Arm getragen hatte. Und jetzt erschien die prächtige Gestalt Miss Ingrams, ganz in Weiß gekleidet. Ein langer, weißer Schleier wallte von ihrem Haupt und eine Girlande von Rosen umkränzte ihre Stirn. Ihr zur Seite schritt Mr. Rochester und beide näherten sich dem Tisch. Sie knieten nieder, während Louisa Eshton und Mrs. Dent, die ebenfalls in Weiß gekleidet waren, hinter ihnen Aufstellung nahmen. Hierauf folgte eine stumme Zeremonie, aus welcher man leicht erriet, dass es die pantomimische Darstellung einer Trauung sei. Gegen den Schluss hin berieten Colonel Dent und seine Gesellschaft eine Weile im Flüsterton; dann rief der Oberst: »Braut!« Mr. Rochester verneigte sich und der Vorhang fiel nieder.
Geraume Zeit verfloss, bevor er aufs Neue in die Höhe ging. Die Szene, welche sich dem Auge jetzt darbot, war ungleich sorgsamer vorbereitet als die vorhergehende. Wieich bereits erwähnt habe, schritt man über zwei Stufen von dem Speisesaal in das Gesellschaftszimmer hinauf. Auf der oberen dieser beiden Stufen stand jetzt eine große, prächtige Marmorschale, in welcher ich das Becken aus dem Gewächshaus wiedererkannte, welches für gewöhnlich von Goldfischen belebt und von seltenen exotischen Pflanzen umgeben war. Die Schale war von enormer Größe und äußerst schwer; ihr Transport in die Gesellschaftsräume musste viel Mühe und Zeit gekostet haben.
Zur Seite dieses Marmorbassins saß Mr. Rochester auf dem Teppich, in Schals gehüllt und mit einem Turban auf dem Kopf. Seine dunklen Augen, die bräunliche Hautfarbe und seine heidnischen Gesichtszüge passten ausgezeichnet zu diesem Kostüm. Er war das gelungenste Bild eines orientalischen Emirs; der Absender oder das Opfer einer seidenen Schnur.
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